Wie ein boser Traum
irgendetwas übersehen haben. »Du hast weder jemanden gesehen noch irgendetwas gehört?« Wer immer das getan hatte, musste wenige Momente zuvor das Zimmer verlassen haben, bevor Clint hereinkam. Vielleicht hatte sich der Mörder in Emilys Elternhaus versteckt und war dann zur Tür hinausgeschlüpft, nachdem Clint reingekommen war. Vielleicht hatte der Mörder die
Tür geschlossen … aber hätte er sich die Zeit genommen, sie abzuschließen? Die Polizisten und ein halbes Dutzend anderer Leute, die an dem Abend ins Haus gekommen waren, hatten überall im Haus Blutflecken hinterlassen. Der Tatort war ein einziges Chaos gewesen. Falsch angepackt, genau wie Cathy gemeint hatte. Der ganze Fall war falsch angepackt worden.
Wut zeigte sich in Clints Gesichtszügen – in denen sich kurz zuvor noch ein ungeheurer Schmerz gespiegelt hatte. »Du weißt verdammt gut, dass ich niemanden sonst gesehen habe. Du hast jeden Tag in dem gottverdammten Gerichtssaal gesessen. Du hast das doch alles mitbekommen.«
Er hatte Recht. Am liebsten hätte sie laut geschrien. »Das war, bevor ich gewusst habe, dass du die Wahrheit sagst.«
Sie wusste selbst nicht, wie sie den Blickkontakt aufrechterhalten sollte, denn ihr ganzes Wesen schrie förmlich auf vor Schmerz, als sie die Verzweiflung und Wut erkannte, die in Clint schlummerte.
»Mein Vater«, sprach sie zögernd weiter, »er hat gehört, wie Sylvester Fairgate dir den Auftrag erteilt hat. Fairgate hat gedroht, dass er, falls mein Vater jemals jemandem davon erzählen würde …«
Clint hielt die Hand hoch. »Ich kenne seine Methoden.« Er wirkte verbittert, blickte eisig.
»Mein Vater hat mir gesagt, dass er heute nach dem Gottesdienst mit Ray sprechen will. Er will das Richtige tun.«
»Und dadurch haben sich plötzlich deine Gefühle geändert.«
Es hätte sie eigentlich nicht verwundern dürfen, dass
Clint ihr diesen Vorwurf machte; dennoch tat es das. Sie hatte nicht erwartet, dass er ihr Verhalten anerkennen, gar verstehen würde. Dass Emilys Vater seine Familie nicht aufs Spiel setzen wollte, indem er Clints Alibi stützte, hatte Clint zehn Jahre gekostet, nein, elf, wenn man die Untersuchungshaft mit einbezog. Clint konnte da nicht einfach sagen: Danke, aber jetzt lass uns die ganze Geschichte vergessen.
»Ich … ja, das stimmt. Ich habe begriffen: Wenn du in der Hinsicht die Wahrheit sagst, dann wahrscheinlich auch in Bezug auf den Rest.« Es war ihr fast unerträglich, zu sehen, wie die Wut sich in Clints Blick spiegelte – aber das war sie ihm schuldig. »Vielleicht hattest du Recht, als du gesagt hast, dass ich jemandem die Schuld zuschieben musste, außer mir selbst.« Dass sie so egoistisch gewesen war, ein solcher Feigling, tat ihr im Innersten weh. Mehr, als sie auszudrücken vermochte.
Er trat noch einen Schritt näher, bis er nur noch Zentimeter von ihr entfernt stand.
»Kannst du dir vorstellen, was man mir dort angetan hat?«
Er sprach die Worte drohend aus. Eigentlich hätte sie Angst haben, um ihr Leben laufen sollen, aber sie rührte sich nicht vom Fleck.
»Es tut mir leid.« Wirklich und wahrhaftig.
»Es gab nur eine Möglichkeit, um zu überleben: nichts zu fühlen.«
Sie wollte ein wenig auf Distanz gehen. Aber sie konnte es nicht. Sie konzentrierte sich auf sein Gesicht. Aus der Nähe erkannte sie jede Einzelheit. Die Narbe war deutlich zu erkennen, eine Spur heller als seine Haut. Die Jahre der Schmerzen und Qualen hatten Furchen um die
Mundwinkel herum gegraben, Falten um die Augen. Und doch war er ein erstaunlich gutaussehender Mann. Verschwunden war der sanfte Charme, ersetzt durch eine rohe sexuelle Energie, die beinah bedrohlich wirkte.
»Die Schmerzen waren nichts«, sagte er und sah ihr wieder in die Augen. »Die zu verdrängen war gar nicht so schwierig.«
Er packte sie bei den Armen und schüttelte sie. Sie unterdrückte die Regung, vor Angst aufzuschreien, schalt sich selbst, dass ihr bange war. Sie verdiente, was immer er ihr antat. Das Ganze war ihre Schuld … ihr Fehler. Ein Fehler, für den er einen hohen Preis bezahlt hatte.
»Es war das andere, das den aufgeblasenen Kerl vernichtet hat, den du damals gekannt hast.«
Er musste nicht mehr weiterreden – sie wusste Bescheid. Verdammt. Sie wusste, was man mit jungen Männern an solch einem Ort tat. Vor allem einem, der so gut aussah wie Clint.
»Du warst damals in mich verknallt.« Sein Mund war jetzt nur Zentimeter von ihrer Schläfe entfernt, als sie sich abwandte, es
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