Wie ein boser Traum
müsste doch auch Emily wissen, wer ihre beste Freundin umgebracht hatte. Mit wem hatte Heather damals gestritten? Wer war neidisch auf sie gewesen, wer hatte sie aus dem Weg räumen wollen?
Es musste damals Hinweise gegeben haben, die zu dem Mörder führten. Die Art, wie der Mord verübt worden war, zeugte von Rache, Neid, Eifersucht, nicht von einem Willkürakt. Genau dieses Detail hatte der Bezirksstaatsanwalt gegen Clint ins Feld geführt.
Nur – er war es nicht gewesen.
Er sah sich in der Scheune um. Seine Mutter hatte seinen Wagen dort hineingestellt, um ihn vor Wind und Wetter zu schützen. Und den alten Pick-up. Nicht zu fassen, dass die alte Karre noch immer da war. Ein hellgrüner Ford, Baujahr 1964, ein bisschen verbeult, der Lack ziemlich stumpf. In dem Wagen hatte er Autofahren gelernt. Als er daran dachte, wie geduldig seine Mutter gewesen war, empfand er eine schmerzliche Traurigkeit. Er hatte ihr Haus verloren, ihren ganzen Besitz. Jetzt war die alte Scheune das einzige Dach über dem Kopf, das er noch besaß. Das Einzige, was ihn an seine Mutter erinnerte.
Er war zu Wal-Mart gefahren und hatte zwei Schlafsäcke gekauft. In der Scheune gab es keinen Strom, deshalb auch weder Licht noch eine Kochmöglichkeit – es sei denn, er hätte ein Lagerfeuer entzündet. Aber er hatte für eine Weile genug von Rauch und Feuer.
Allerdings hatte es auch eine unerwartete Wende in den Ereignissen gegeben. Ein Angestellter der Versicherung
war am Morgen auf dem Weg zur Kirche vorbeigekommen und hatte erklärt, dass das Haus versichert sei und er, Clint, binnen achtundvierzig Stunden eine vorübergehende Unterkunft zur Verfügung gestellt bekäme. Seine Mutter hatte für die Zahlungen an die Versicherung und die Steuerbehörde Daueraufträge eingerichtet. Clint hatte nicht einmal gewusst, dass sie ein noch aktives Bankkonto besaß. Allerdings bezweifelte er, dass viel Geld übrig war – wenn überhaupt. Aber darum wollte er sich in ein paar Tagen kümmern. In erster Linie war er erstaunt, dass der Mann von der Versicherung sich überhaupt die Mühe machte, ihn darüber zu informieren. Vielleicht gab es doch noch ein paar gute Menschen. Wenn er auch nicht damit gerechnet hatte, sie in dieser Stadt zu finden.
Er hörte, wie eine Autotür zugeschlagen wurde, und war sofort hellwach. Er stellte seinen Becher ab und stand auf. Vermutlich Ray, der nachsehen wollte, ob er irgendetwas brauchte, oder ihn verhaften wollte, weil er gestern Abend Baker und Medford vermöbelt hatte.
Es war nicht Ray.
Der Wagen, der auf Clints Auffahrt parkte, neben den Überresten des Hauses seiner Mutter, gehörte Emily.
Was wollte sie denn hier? Dass sie nicht mit ihren Eltern in der Kirche war, wunderte ihn. Früher war sie jeden Sonntag zur Messe gegangen, braves kleines Mädchen, das sie war. Zu brav für ihn.
Sie stieg aus dem Auto und blickte sich um; ihre unsicheren Bewegungen veranlassten ihn, sie aus dem Schatten der Scheune heraus zu beobachten. Vermutlich würde sie nicht zu ihm herüberkommen. Sondern sich im Hof umsehen, ein paar Schritte in Richtung Auffahrt machen,
vielleicht seinen Namen rufen und dann wieder davonfahren.
Wenn er schlau wäre, würde er sie machen lassen.
Aber offenbar war er nicht so schlau. Er trat aus dem Schatten, so dass sie ihn sah. Ein Teil in ihm fühlte sich zu ihr hingezogen, hatte sich schon immer zu ihr hingezogen gefühlt.
Ihre Blicke trafen sich. Nach ihrem traurigen Gesichtsausdruck zu urteilen bezweifelte er, ob er das, was immer sie zu sagen hatte, ertragen würde.
»Ich muss dir eine Frage stellen.«
Kein Hallo , kein Guten Morgen , sie kam einfach sofort zur Sache. Und er hatte gehofft, sie wäre gekommen, um ihm mitzuteilen, dass sie sich die ganze Zeit geirrt hatte; Enttäuschung machte sich in ihm breit.
Clint musste seine ganze Härte aufbringen, die er sich während der zehnjährigen Haft zugelegt hatte. »Dann frag mich doch.« Seine Stimme klang harsch und herausfordernd. Er konnte sich diese verrückten Gefühlsaufwallungen einfach nicht mehr leisten.
»Willst du mir die ganze Wahrheit sagen über das, was in jener Nacht passiert ist? Aber lass nichts aus.«
Sie machte wohl Witze. »Wozu?« Allein die Tatsache, dass sie ihn dazu aufforderte, machte ihn unheimlich wütend.
»Ich muss es wissen.«
Sie blickte so schmerzvoll drein, dass ihm klar wurde, dass sie keine Spielchen spielte.
Er zeigte auf das Scheuneninnere hinter sich.
»Dafür musst du dich aber
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