Wie ein einziger Tag
sind rührend.
»Danke«, sage ich.
»Wirklich. Ich will dich nie wieder vergessen. Du bedeutest mir so unendlich viel. Ich weiß nicht, was ich heute ohne dich angefangen hätte.«
Die Rührung schnürt mir die Kehle zusammen. Hinter ihren Worten sind Gefühle spürbar, die gleichen, die ich empfinde, wann immer ich an sie denke. Ich weiß, das allein hält mich am Leben, und ich liebe sie in diesem Augenblick mehr denn je. Wie sehr wünsche ich, stark genug zu sein, um sie auf Händen ins Paradies zu tragen.
»Sag jetzt nichts, bitte«, murmelt sie. »Laß uns einfach den Augenblick genießen.«
Das tue ich, und ich fühle mich wie im Himmel.
Ihre Krankheit ist schlimmer als zu Beginn, auch wenn sie bei Allie anders ist als bei den meisten. Es gibt noch drei andere mit diesem Leiden im Heim. Doch im Gegensatz zu Allie befinden sie sich in einem sehr fortgeschrittenen Stadium der Krankheit, und ihr Zustand ist völlig hoffnungslos. Sie wachen verwirrt und mit Wahnvorstellungen auf. Sie wiederholen sich unentwegt. Zwei von ihnen können nicht ohne Hilfe essen und werden bald sterben. Die dritte, eine Frau, läuft ständig weg und verirrt sich dann. Vor kurzem wurde sie in einem fremden Wagen ein paar hundert Meter entfernt aufgefunden. Seither hat man sie an ihr Bett gefesselt. Alle drei können sehr zornig werden und dann wieder wie verlorene Kinder sein, traurig und allein. Nur selten erkennen sie das Pflegepersonal oder ihre Angehörigen. Es ist eine aufreibende Krankheit, für alle, und deshalb fallt ihren und meinen Kindern ein Besuch nicht leicht.
Natürlich hat auch Allie ihre Probleme, Probleme, die sicher im Laufe der Zeit noch schlimmer werden. Morgens ist sie furchtbar ängstlich und weint und läßt sich nicht beruhigen. Sie sieht kleine Wesen, wie Gnome, glaube ich, die sie anstarren, und sie schreit, um sie zu verscheuchen. Sie badet gern, will aber nicht regelmäßig essen. Sie ist dünn, viel zu dünn in meinen Augen, und an guten Tagen tue ich mein Bestes, um sie aufzupäppeln.
Aber hier enden auch schon die Ähnlichkeiten. Allies Fall wird für ein Wunder gehalten, weil ihr Zustand manchmal, nur manchmal, wenn ich ihr vorgelesen habe, sich leicht verbessert. Dafür gibt es keine Erklärung. »Das ist unmöglich«, sagen die Ärzte, »das kann nicht Alzheimer sein.« Ist es aber. An den meisten Tagen, vor allem morgens, kann gar kein Zweifel daran bestehen. Da sind sich alle einig.
Aber warum ist ihr Zustand plötzlich verändert? Warum ist sie manchmal anders, nachdem ich ihr vorgelesen habe? Ich nenne den Ärzten den Grund - ich kenne ihn in meinem Herzen, aber sie glauben mir nicht. Statt dessen verweisen sie auf die Wissenschaft. Viermal sind Spezialisten von Chapel Hill angereist, um die Antwort zu finden. Viermal sind sie ratlos wieder abgereist. »Sie können es nicht verstehen, wenn Sie nur in Ihre Lehrbücher schauen«, sage ich. Doch sie schütteln den Kopf und antworten: »Alzheimer läuft nicht so ab. In ihrem Zustand ist es ausgeschlossen, daß sie ein normales Gespräch führt, oder daß es ihr im Laufe des Tages besser geht. Ausgeschlossen.«
Aber es ist so. Nicht jeden Tag, auch nicht an den meisten Tagen und entschieden seltener als zu Anfang. Aber manchmal. Und das einzige, was ihr an solchen Tagen fehlt, ist ihr Erinnerungsvermögen, so als hätte sie Amnesie. Aber ihre Gefühle sind normal, ihre Gedanken sind normal. Und dies sind die Tage, an denen ich weiß, daß ich es richtig mache.
Als wir in ihr Zimmer zurückkommen, wartet das Abendessen auf uns. Man hat es so eingerichtet, daß wir an Tagen wie diesen hier essen können. Und wieder muß ich sagen, daß ich mich nicht beschweren kann. Die Menschen hier kümmern sich um alles, sie sind rührend zu mir, und dafür bin ich dankbar.
Das Licht ist gedämpft, zwei Kerzen stehen auf dem Tisch, und im Hintergrund erklingt leise Musik. Das Geschirr ist aus Plastik, und die Karaffe ist mit Apfelsaft gefüllt, aber Vorschriften sind Vorschriften, und sie scheint es nicht zu stören. Beim Anblick des Zimmers hält sie den Atem an, und ihre Augen sind weit geöffnet.
»Hast du das gemacht?«
Ich nicke, und sie tritt ein.
»Es ist wunderschön.«
Ich biete ihr meinen Arm an und führe sie zum Fenster. Sie läßt ihre Hand auf meinem Arm ruhen, während wir eng beieinanderstehen und in den kristallklaren Abend blicken. Das Fenster ist leicht geöffnet, und ich fühle einen Lufthauch über mein Gesicht streichen. Der Mond
Weitere Kostenlose Bücher