Wie ein einziger Tag
ließen. Innerhalb von Stunden wurde sie schwächer, bleicher, verbitterter, und die Tage endeten weit schlimmer, als sie begonnen hatten. Unsere Tage waren verloren, genau wie sie es war. Und aus Selbstsucht auch ich.
So verwandelte ich mich, wurde zu Magellan oder Kolumbus, einem Forschungsreisenden durch die Geheimnisse des Geistes. Und ich lernte, stockend und langsam zwar, lernte trotz allem, was zu tun war. Lernte, was für ein Kind offensichtlich ist. Daß das Leben eine Kette von kleinen Leben ist und daß jedes einzeln für sich gelebt werden muß, Tag für Tag. Daß man jeden Tag versuchen sollte, sich an der Schönheit von Blumen und Gedichten zu erfreuen und zu den Tieren zu sprechen. Daß ein Tag mit Träumen, mit Sonnenuntergängen und erfrischenden Winden einfach nicht schöner sein kann. Vor allem aber habe ich gelernt, daß Leben bedeutet, auf einer Bank am Fluß zu sitzen mit meiner Hand auf ihrem Knie und manchmal, an guten Tagen, mich zu verlieben.
»Woran denkst du?« fragt sie.
Die Abenddämmerung ist hereingebrochen. Wir sind von unserer Bank aufgestanden und schlurfen über die beleuchteten Wege, die sich durch unser Areal winden. Sie hat sich bei mir untergehakt, und ich bin ihr Begleiter. Es war ihre Idee. Vielleicht will sie mir nahe sein. Vielleicht will sie mich stützen. Wie auch immer, ich lächle vor mich hin.
»Ich denke an dich.«
Sie antwortet nicht, drückt nur meinen Arm, und ich weiß, daß sie es gern gehört hat. Unser gemeinsames Leben hat mich gelehrt, Zeichen zu verstehen, selbst wenn diese ihr selbst zum Teil gar nicht einmal bewußt sind. Ich fahre fort:
»Ich weiß, daß du dich nicht erinnern kannst, wer du bist. Ich aber weiß es, und wenn ich dich anschaue, geht es mir gut.«
Sie klopft mir auf den Arm und lächelt.
»Du hast ein Herz voller Liebe. Ich hoffe, ich habe mich früher so wohl mit dir gefühlt wie jetzt.«
Wir setzen unseren Spaziergang fort. Plötzlich sagt sie: »Ich muß dir etwas erzählen.«
»Ja?«
»Ich glaube, ich habe einen Verehrer.«
»Einen Verehrer?«
»Ja«
»So, so.«
»Glaubst du mir nicht?«
»Doch, natürlich.«
»Das solltest du auch.«
»Warum?«
»Weil ich glaube, daß du dieser Verehrer bist.«
Ich denke über ihre Worte nach, während wir schweigend, Arm in Arm, an den Zimmern vorbei, dann durch den Hof gehen. Wir betreten den Garten mit den wildwuchernden Blumen, und hier halte ich an. Ich pflücke ihr einen Strauß - rote, gelbe, violette Blüten. Ich reiche ihn ihr, und sie führt ihn an die Nase. Sie riecht mit geschlossenen Augen daran und flüstert: »Sie sind wunderschön.« Sie hält den Strauß in der einen Hand und meine Hand in der anderen, und so setzen wir unseren Weg fort. Die Menschen schauen uns nach, denn wir sind ein wandelndes Wunder, jedenfalls sagen sie das. Und es stimmt im Grunde, auch wenn ich die meiste Zeit nicht glücklich bin.
»Du glaubst also, daß ich es bin?«
»Ja«
»Warum?«
»Weil ich gefunden habe, was du versteckt hast.«
»Was?«
»Das hier«, sagt sie und reicht mir einen kleinen Zettel. »Ich habe ihn unter meinem Kopfkissen gefunden.«
Ich lese:
Der Leib vergeht in tödlichem Schmerz, mein Schwur Jedoch, er bleibt am Ende unserer Tage; Ein Kosen, verewigt durch des Kusses Spur, Erweckt die Liebe jenseits jeder Klage.
»Gibt es noch andere?« frage ich.
»Diesen hier habe ich in meiner Manteltasche gefunden.«
Unsre Seelenwaren eins, du weißt es, Und werden nie und nimmer trennen sich; Es strahlt dein Antlitz, voll des Morgenglanzes -Berühr' ich dich, so find' ich immer mich.
»So, so«, ist alles, was ich sage.
Wir gehen weiter, während die Sonne am Himmel tiefer sinkt. Auch als nur noch silbriges Zwielicht vom Tage übrig ist, sprechen wir weiter von Poesie. Sie ist bezaubert von der Romantik.
Als wir den Eingang erreichen, bin ich müde. Sie weiß das, und deshalb hält sie mich mit der Hand zurück, damit ich sie ansehe. Und während ich ihr in die Augen schaue, wird mir bewußt, wie krumm ich geworden bin. Wir sind jetzt beide gleich groß. Manchmal bin ich froh, daß sie nicht merkt, wie sehr ich mich verändert habe. Sie blickt mich lange unverwandt an.
»Was machst du?« frage ich.
»Ich will dich oder diesen Tag nicht vergessen und versuche, die Erinnerung an dich wach zu halten.«
Ob es auch diesmal so sein wird? frage ich mich und weiß doch, daß es nicht möglich ist. Ich verrate ihr meine Gedanken nicht, sondern lächle nur, denn ihre Worte
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