Wie ein einziger Tag
ist aufgegangen, und wir sehen zu, wie der Abendhimmel sich entfaltet.
»Ich habe noch nie etwas so Schönes gesehen«, sagt sie, und ich stimme ihr zu.
»Ich auch nicht«, sage ich und schaue sie dabei an. Sie versteht, was ich meine, und ich sehe sie lächeln. Kurz darauf flüstert sie:
»Ich glaube, ich weiß, für wen Allie sich am Ende der Geschichte entschieden hat.«
»Wirklich?«
»Ja«
»Für wen?«
»Für Noah.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher.«
Ich nicke und lächle. »Ja, das hat sie«, sage ich leise, und sie lächelt zurück. Ihr Gesicht strahlt.
Ich rücke ihren Stuhl zurecht. Sie setzt sich, und ich nehme ihr gegenüber Platz. Sie reicht mir ihre Hand, und als ich sie ergreife, spüre ich, wie ihr Daumen sich bewegt, genauso wie vor so vielen Jahren. Schweigend blicke ich sie an und durchlebe wieder die Augenblicke meines Lebens. Die Wehmut schnürt mir das Herz zusammen, und wieder einmal wird mir klar, wie sehr ich sie liebe. Meine Stimme bebt, als ich schließlich das Schweigen breche.
»Du bist so schön«, sage ich. Und in ihren Augen sehe ich, daß sie weiß, was meine Worte bedeuten.
Sie antwortet nicht, senkt nur den Blick, und ich frage mich, was sie wohl denkt. Sie gibt mir keinen Hinweis, und ich drücke sanft ihre Hand. Ich warte. Mit all meinen Träumen kenne ich ihr Herz, und ich weiß, daß ich bald am Ziel bin.
Und dann, ein Wunder, das mir recht gibt.
Denn als jetzt leise die Musik von Glenn Miller erklingt, sehe ich, wie sie allmählich den Gefühlen in ihrem Innern nachgibt. Ich sehe ein warmes Lächeln um ihre Lippen spielen, ein Lächeln, das alle Mühen lohnt. Sie zieht meine Hand zu sich.
»Du bist wundervoll…«, sagt sie leise und verstummt, und in diesem Augenblick verliebt auch sie sich in mich, das weiß ich, denn ich habe die Anzeichen wohl schon tausendmal gesehen.
Sie sagt sonst nichts, das braucht sie auch nicht, und sie schenkt mir einen Blick aus einer anderen Zeit, einen Blick, der mich wieder zu einem ganzen Menschen macht. Ich lächle zurück mit so viel Leidenschaft, wie ich aufbieten kann, und wir schauen uns an, und die alten Gefühle wühlen uns auf wie Meereswellen. Mein Blick wandert durchs Zimmer, zur Decke und dann zurück zu Allie, und sie sieht mich auf eine Weise an, daß mir ganz warm ums Herz wird. Und plötzlich fühle ich mich wieder jung. Ich bin nicht von Schmerzen und Kälte geplagt, nicht mehr gebeugt und entstellt, nicht mehr vom grauen und grünen Star geplagt.
Ich bin stark und stolz und der glücklichste Mensch auf der Welt, und dieses Glücksgefühl hält lange an.
Als die Kerzen schon auf ein Drittel heruntergebrannt sind, bin ich so weit, das Schweigen zu brechen. »Ich hebe dich von ganzem Herzen«, sage ich. »Und ich hoffe, du weißt das.«
»Natürlich weiß ich das«, sagt sie atemlos. »Ich habe dich immer geliebt, Noah.«
›Noah‹, hallt es in meinem Kopf wider. ›Noah‹ Sie weiß es, denke ich im stillen. Sie weiß, wer ich bin…
Sie weiß es…
Eine Kleinigkeit nur, dieses Wissen, für mich aber ist es ein Geschenk Gottes, ist es alles, was mir in unserem gemeinsamen Leben noch etwas bedeutet.
»Noah, mein liebster Noah«, murmelt sie.
Und ich, der ich die Worte der Ärzte nicht akzeptieren wollte, ich habe wieder einmal gesiegt, wenigstens für einen Augenblick. Ich verzichte auf alle Verstellung, küsse ihre Hand, führe sie an meine Wange und flüstere ihr ins Ohr:
»Du bist das Schönste, das mir je im Leben widerfahren ist.«
»O Noah«, sagt sie mit Tränen in den Augen. »Ich hebe dich auch.«
Wenn es doch nur so enden würde, ich wäre ein glücklicher Mensch.
Doch es wird so nicht enden, das weiß ich, denn mit der Zeit entdecke ich wieder die ersten Anzeichen von Unruhe in ihrem Gesicht.
»Was ist?« frage ich, und ihre Antwort ist fast ein Flüstern.
»Ich habe solche Angst. Angst, dich wieder zu vergessen. Es ist so grausam; ich will das hier nicht aufgeben.«
Ihre Stimme bricht, und ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich weiß, daß der Abend seinem Ende zugeht und daß ich nichts tun kann, um das Unvermeidliche aufzuhalten. Hier bin ich machtlos.
»Ich werde dich nie verlassen«, antworte ich schließlich. »Was wir erlebt haben, ist ewig.«
Sie weiß, daß ich mehr nicht tun kann, und keiner von uns will leere Versprechen. Doch an der Art, wie sie mich anschaut, erkenne ich, daß sie wieder einmal wünscht, daß es anders sein könnte.
Die Grillen stimmen ihren
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