Wie ein Flügelschlag
wenn ich diesen Mann nicht kannte. Schließlich hatte er
mir nichts getan. Aber sie schrie und tobte und ich bekam Angst
vor ihr und weinte und dann zerschnitt ich das Foto. Stückchen
für Stückchen schnitt ich von dem Bild ab. Am Anfang bemühte
ich mich noch, nicht sein Gesicht zu verletzen, und schnitt
immer nur vom Rand ab. Aber irgendwann war kein Rand mehr
da, und meine Mutter stand immer noch neben mir und passte
auf, und dann schnitt meine Schere mitten durch dieses Gesicht,
das ich nicht kannte. Schließlich, als nichts mehr von dem
Foto übrig war außer einem kleinen Berg voller Papierschnipsel,
nahm mir meine Mutter die Schere aus der Hand und befahl
mir, die Schnipsel ins Klo zu werfen und runterzuspülen.
Wir haben über dieses Foto nie wieder gesprochen, meine
Mutter und ich. Und erst viel später begriff ich, dass es mein
Vater war, den ich damals unter ihrer Aufsicht in tausend kleine
Stücke zerschnitten hatte.
Das Schrillen meines Weckers riss mich aus meinen Gedanken.
Ich stellte ihn aus und schlüpfte aus dem Bett. Vor meinem Kleiderschrank
blieb ich stehen. Ich betrachtete die Gestalt in dem
zerknitterten T-Shirt, die mir aus dem Spiegel entgegenblickte.
Sah den mageren Körper, dem man den Leistungssport kaum
anmerkte. Nur wer sich auskannte, konnte die Muskeln an meinen Oberarmen und Beinen erkennen. Es ist mir völlig schleierhaft,
woher du deine Kraft nimmst , hatte mein Trainer früher oft
gesagt. Du siehst aus wie ein Vögelchen, das zu früh aus dem Nest
gefallen ist. Mein Blick streifte meine kurzen strubbeligen Haare,
die nie so ordentlich am Kopf liegen bleiben wollten wie die
Frisuren der anderen Mädchen in meiner Klasse. Ein paarmal
hatte ich versucht, mir die Haare wachsen zu lassen, aber es war
zwecklos. Meine Haare machten, was sie wollten. Ich griff zur
Schere auf meinem Nachttisch und schnitt zwei Ponyfransen
ab, die mir schon wieder ins Gesicht gewachsen waren. Danach
zog ich das T-Shirt über den Kopf und drehte mich ein Stück,
um einen Blick auf mein Tattoo zu werfen. An dem Tag, als die
Zusage für das Stipendium kam, habe ich es stechen lassen. Ein
kleiner Schmetterling ziert seitdem meine rechte Schulter. Da
ich noch keine achtzehn war, sollte meine Mutter ihr schriftliches
Einverständnis erteilen. Die Unterschrift für die Einwilligungserklärung
habe ich gefälscht. Meine Mutter hätte mir nie
ein Tattoo erlaubt. Sie hat es bis heute noch nicht gesehen, und
da sie sowieso nie zu meinen Wettkämpfen kommt, ist es auch
unwahrscheinlich, dass sie es irgendwann zu Gesicht bekommen
wird.
»Warum ausgerechnet ein Schmetterling?«, fragte mich Mel
nach unserem ersten gemeinsamen Training. »Warum kein
Delfin oder Fisch oder vielleicht eine Nixe?«
»Ich wollte Flügel.« Diese Antwort musste ihr genügen.
Ich warf einen letzten Blick in den Spiegel, dann schlüpfte ich
in meine Klamotten. Heute war Samstag, nach dem Morgentraining
würde ich nach Hause fahren. Übers Wochenende war das
Internat meistens leer, nur selten blieb jemand freiwillig in der
Schule, wenn er zu seiner Familie fahren konnte. Ich wäre gerne
hiergeblieben, aber meine Wochenendbesuche zu Hause waren
Pflicht. Ohne das hätte meine Mutter niemals erlaubt, dass ich
ins Sportinternat übersiedele.
Ich zog meine Winterjacke über den Trainingsanzug, warf mir
meinen Rucksack über die Schulter und verließ das Zimmer.
Am Schwarzen Brett sah ich, dass der Waldlauf für heute Morgen
abgesagt worden war, Drexler hatte einen wichtigen Termin.
Einen Moment überlegte ich, ob ich erst noch frühstücken
sollte. In der Mensa brannte schon Licht, und wenn ich ehrlich
war, hatte ich Hunger. Frühstück hätte aber auch bedeutet, wieder
auf die anderen aus meiner Klasse zu treffen, und bevor ich
nicht mit Melanie gesprochen und rausgefunden hatte, was mit
ihr los war, hatte ich darauf wenig Lust.
Ich beschloss, auf das Frühstück zu verzichten. Einen Kaffee
und eine Scheibe Toast würde es auch zu Hause geben, so lange
konnte ich es noch aushalten.
Zwei Minuten später stand ich auf der Straße an der Bushaltestelle.
Als der Bus kam, stieg ich ein und fand einen Platz
ganz hinten. Ich holte meinen MP3-Player aus dem Rucksack,
steckte mir die Stöpsel in die Ohren und lehnte meinen Kopf
an die Scheibe. Die Fahrt nach Hause dauerte fast eine Stunde,
ich konnte also ganz in Ruhe noch ein wenig dösen. Ich wollte
gerade die Augen schließen, als der Bus abrupt bremste und
lautes Hupen zu mir durchdrang. Ich
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