Wie ein Flügelschlag
also zu Hause sein. Kurz betrachtete
ich die beiden Jacken, die da nebeneinanderhingen,
als ob sie zusammengehörten. Dann ging ich ins Wohnzimmer.
Das Erste, was ich sah, war die leere Flasche auf dem Fußboden.
Auf dem Wohnzimmertisch stand ein halb volles Glas, daneben
quollen Zigarettenkippen aus dem Aschenbecher. Die Luft war
zum Schneiden. Ich durchquerte den Raum, zerrte den Rollladen
nach oben und riss die Balkontür auf. Kalte Luft strömte
herein und nahm mir den Atem. Vom Sofa kam ein Stöhnen.
Unter der Wolldecke bewegte sich etwas. Ich ging hinüber und
packte meine Mutter an der Schulter. »Mama, aufwachen, ich
bin's, Jana!«
Ein weiteres Stöhnen. Ich schüttelte Mama noch mal. Sie
blinzelte und streckte die Hand nach dem Tisch aus. Sie tastete
eine Weile herum, bis sie die Schachtel neben dem Aschenbecher
fand, sie kurz schüttelte und merkte, dass sie leer war.
»Scheiße.« Sie warf die Schachtel auf den Fußboden. Ihre
Augen waren immer noch geschlossen.
Warum war ich überhaupt nach Hause gefahren? Was hatte
ich erwartet?
Meine Mutter tastete wieder über den Tisch und griff nach
ihrem Glas. Ich stopfte meine Hände in die Hosentaschen und
ballte sie zu Fäusten. Am liebsten hätte ich das Glas genommen
und an die Wand geworfen. Aber das hätte nichts geändert. Gar
nichts. Meine Mutter stöhnte und richtete sich halb auf dem Sofa
auf. Sie setzte das Glas an die Lippen, öffnete kurz die Augen
und sah mich an. Etwas Trotziges lag in ihrem Blick, bevor sie
die Augen wieder schloss und sich zurück auf ihr Kissen fallen
ließ.
»Dir auch einen guten Morgen«, murmelte ich und ging in
die Küche. Im Kühlschrank fand ich eine Tüte Milch und ein
paar Eier. Immerhin. Ich goss mir etwas von der Milch in ein
Glas und roch vorsichtig daran. Wenigstens war sie frisch. Dann
setzte ich eine Pfanne auf den Herd und verarbeitete die Eier zu
Rührei. Meine Mutter kam aus dem Wohnzimmer, als ich fast
fertig war mit meinem Frühstück. Sie setzte sich zu mir an den
Tisch, stützte den Kopf in die Hände und sah mich an.
»Du solltest duschen gehen«, sagte ich knapp. »Und was Frisches
anziehen.«
Ich sah, dass sie mir widersprechen wollte, aber dann stand
sie auf und schlurfte ins Bad. Ich hörte, wie sie das Wasser aufdrehte,
und räumte in der Zwischenzeit die Küche wieder auf.
Wir hatten die Rollen getauscht. Es war einfach irgendwann passiert. Wenn ich ihr nicht sagte, was sie machen sollte, machte sie
gar nichts. Ein paarmal habe ich versucht, wieder das Kind zu
sein. Ihr Kind. Aber dann waren wir wie zwei Kinder nebeneinander,
die ihre Mutter verloren hatten.
Ich holte ein Stück Papier aus der Schublade, suchte nach
einem Stift und fing an, einen Einkaufszettel zu schreiben. Tat
ich das nicht, würde sie sich eine Woche lang nur von Zigaretten
ernähren. Und von dem, was ihr die Kolleginnen im Baumarkt
zusteckten. Ich hatte gewusst, dass sie mich vermisste, ich hatte
gewusst, dass sie sich mehr gehen ließ als sonst, seit ich nicht
mehr jeden Tag da war, aber ich war trotzdem geschockt. Es war
schlimmer, als ich gedacht hatte.
Ich holte meinen Rucksack aus dem Flur und kippte meine
Wäsche aus. Solange Mama im Bad war, konnte ich schon mal
die Maschine anschmeißen. Viel Wäsche hatte ich nicht, schließlich
verbrachte ich den halben Tag im Wasser. Ich stopfte meine
Jeans und ein paar T-Shirts in die Waschmaschine und schaltete
sie an. Ich hatte gerade die Klappe zugeworfen und einen Kaffee
aufgesetzt, als meine Mutter zurück in die Küche kam. Sie sah
besser aus, trug frische Sachen und um den Kopf hatte sie ein
Handtuch gewickelt. Sie zog mich in ihre Arme und ich ließ es
mir gefallen.
»Guten Morgen, mein Schatz. Es tut mir leid. Ich wollte fertig
sein, bevor du kommst, aber ich bin einfach nicht wach geworden.
Und ich habe ganz fürchterliche Migräne.«
Ich nickte und genoss ihre Arme um meinen Körper.
»Schon okay«, sagte ich, obwohl eigentlich gar nichts okay
war. Aber das wussten wir beide, also brauchte ich es nicht auszusprechen.
»Wie war deine Woche?« Meine Mutter nahm zwei Tassen
vom Regal und schenkte uns Kaffee ein.
»Ganz gut.« Ich zögerte kurz. »Melanie hat mich zu sich
nach Hause eingeladen.«
»Melanie?«
»Ja, Melanie Wieland, die Tochter von dem Arzt, du weißt
schon.« Als ich im Internat anfing, hatte meine Mutter mich
ständig nach den anderen ausgefragt, wer sie waren, woher sie
kamen und was ihre Eltern so machten. Natürlich hatte ich ihr
schon längst
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