Wie ein Flügelschlag
blinzelte und versuchte
zu erkennen, was los war. Ein ziemlich großer schwarzer Pkw
war vom Schulhof gerollt und hatte dem Bus offensichtlich die
Vorfahrt genommen. Ich sah den Busfahrer fluchen und die
Faust schütteln, was den Autofahrer aber scheinbar wenig beeindruckte.
Er bog nach links ab und rollte betont langsam am
Bus vorbei.
»Du glaubst wohl, nur weil du einen dicken Schlitten fährst,
hast du eine eingebaute Vorfahrt!« Das Gebrüll des Busfahrers
war bis in die hinterste Reihe zu hören. Neugierig warf ich einen
Blick auf den Fahrer des schwarzen Mercedes. Ich sah direkt
in das Gesicht von Drexler und zuckte zurück. Es gab keinen
Grund dafür, schließlich war ich einfach auf dem Weg nach
Hause. Trotzdem hoffte ich, dass Drexler mich nicht gesehen
hatte, und rutschte ein Stückchen tiefer in meinen Sitz. Der Busfahrer
startete den Motor erneut und fuhr endlich los.
Ich versuchte, noch ein paar Minuten zu schlafen, aber ich
schaffte es nicht. Das Gespräch mit Drexler war mir wieder eingefallen
und ging mir nicht mehr aus dem Kopf. Warum wollte
er, dass ich Melanie gewinnen ließ? Und wie sollte ich auf seine
Forderung reagieren? Es ging mir nicht so sehr um den Sieg.
Wenn Melanie besser schwamm als ich, war das eine Herausforderung,
kein Drama. Aber ich war nicht bereit, mich freiwillig
zurückzunehmen. Drexler hatte mir ziemlich offen mit dem
Verlust meines Stipendiums gedroht. Konnte er das überhaupt?
Und was wurde aus meinem Stipendium, wenn ich nicht die
erwarteten Leistungen erbrachte? In meinem Kopf drehte sich
alles und ich fand keine Lösung. Ich musste mit Melanie reden,
so viel stand fest. Aber ich musste auch herausfinden, wie viel
Drexler wirklich zu sagen hatte. Nur, wen konnte ich fragen?
Wen konnte ich ins Vertrauen ziehen? Die Gefahr, dass derjenige
sofort zu ihm rennen und mich verraten würde, war einfach
zu groß.
Endstation. Als der Bus hielt, hatte ich immer noch keine Lösung
gefunden. Nur eins wusste ich sicher: Meine Mutter war
die Letzte, die mir hierbei helfen würde.
Ich stieg aus und überquerte die Straße. Ich beschloss, erst
mal nach Hause zu gehen, heiß zu duschen und danach zu
frühstücken. Dann würde ich versuchen, Melanie zu erreichen.
Vielleicht würde Mama mit mir zusammen frühstücken. Dann
könnte ich ihr von meinem Besuch bei Mel erzählen. Nur von
den Äußerlichkeiten natürlich. Von dem großen Haus mit den
dicken Teppichen, den Kerzen auf dem Tisch und dem Wein
zum Abendessen. Das würde ihr gefallen, das war die Welt, von
der sie Abend für Abend vor dem Fernseher träumte.
Als ich jedoch unseren Wohnblock erreichte, war ich plötzlich
nicht mehr so sicher, ob es eine gute Idee war, ihr vom Musikerviertel
zu erzählen. Ich ließ meinen Blick über die Fassade
und die Balkone nach oben zum vierten Stock schweifen. Noch
nie war mir das Haus so hässlich vorgekommen wie heute. Ich
würde nie, niemals jemanden aus meiner Klasse mit hierher
bringen können. Ich trat die Haustür mit dem Fuß auf. Das
Schloss war seit Monaten kaputt, und niemand fühlte sich dafür
verantwortlich, es zu reparieren. Ich begann, die vier Stockwerke
nach oben zu gehen. Dort angekommen, zog ich meinen Wohnungsschlüssel
aus der Jackentasche und schloss auf. Ich hätte
klingeln können, aber es war sehr früh, und ich wollte Mama
nicht wecken, falls sie noch schlief.
Insgeheim wünschte ich mir, dass sie das nicht tat. Ich stellte
mir vor, wie sie in der Küche stand und Kaffee kochte oder
Weißbrot toastete, mit Butter und Marmelade bestrich und auf
mich wartete. Ich legte meinen Rucksack im Flur ab. Es roch
weder nach Kaffee noch nach getoastetem Brot. Es roch nach
kaltem abgestandenem Rauch. Seit ich ausgezogen war, hatte
meine Mutter wieder angefangen, in der Wohnung zu rauchen.
Früher war sie dazu wenigstens auf den Balkon gegangen, aber
darin sah sie jetzt keinen Sinn mehr.
»Schlimm genug, dass ich den ganzen Tag allein bin. Warum
soll ich mir deinetwegen auch noch den Arsch abfrieren?«, hatte
sie mir geantwortet, als ich sie das erste Mal auf die Raucherei in
der Wohnung angesprochen hatte.
Ich warf einen Blick in die Küche. Nichts. Ich zog meine Jacke
aus, hängte sie im Flur an einen Haken und ging hinüber zum
Schlafzimmer. Vorsichtig drückte ich die Klinke hinunter und
öffnete die Tür. Ihr Bett war leer.
»Mama?« Ich schaute im Badezimmer nach, wieder nichts.
»Mama, ich bin's! Wo steckst du?« Ihre Winterjacke hing
neben meiner im Flur, sie musste
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