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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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flüstert sie. »Um 16:00 Uhr in der
Aula der Schule.«
    »Heute? In der Schule?«
    Sie nickt. »Die Beerdigung ist morgen Vormittag im engsten
Familienkreis. Deshalb soll es diese Feier an der Schule geben.«
    Als meine Mutter
Familienkreis
sagt, zucke ich zusammen.
Mika. Für eine Weile dachte ich, dass ich ihn einfach vergessen
hätte. Jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt. Mika ist in meinem
Kopf. Die ganze Zeit. Aber er darf dort nicht sein. Nie mehr. An
Mika zu denken, heißt, an seine Hände zu denken, die so zärtlich
sein können. An Mika zu denken, heißt, in seine Augen zu
sehen, die so voller Wärme sind. Wie kann ich an Wärme denken,
wenn es um Melanie doch so kalt geworden ist? An Mika
zu denken, bedeutet Sehnsucht, und Sehnsucht ist Leben. Aber
Melanie ist tot.
    Ich lasse meine Mutter im Wohnzimmer stehen und gehe in
mein Zimmer. Ich wühle mich durch meinen Schrank, ein
T-Shirt nach dem anderen fliegt auf den Boden. Was zieht man
zu einer Trauerfeier an? Schwarz? Ich habe sowieso fast nur
schwarze Sachen. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Was mache ich
hier eigentlich? Ich muss mit Melanie reden, muss sie von diesem
Irrsinn abhalten. Stattdessen suche ich in meinem Kleiderschrank
nach passenden Klamotten für ihre Beerdigung …
    Heulend sinke ich vor meinem Bett auf die Knie. Ich schluchze
auf und presse mir die Hand vor den Mund. Ich will nicht wieder
schreien. Ich darf nicht. Ich beiße auf meinen Handrücken, bis
ich Blut schmecke. Aber diesmal schaffe ich es, nicht zu schreien.
Ich schaffe es, meine Tränen zu kontrollieren. Nach einer Weile
rappele ich mich hoch und fange damit an, das Chaos in meinem
Zimmer wieder aufzuräumen. Dann ziehe ich meine schwarze
Jeans an und einen schwarzen Kapuzenpulli. Obwohl es meine
ganz normalen Sachen sind, komme ich mir vor, als ob ich mich
verkleide. Alles ist so unwirklich.
    Ich gehe ins Bad und wasche mein Gesicht. Beim Blick in den
Spiegel sehe ich meine verquollenen Augen. Ich muss an Mikas
Meeresaugen denken. Ob er da sein wird? Wird überhaupt jemand
von Mels Familie zu dieser Feier in die Schule kommen?
    Im Flur treffe ich auf meine Mutter.
    »Jana, bitte, sei doch vernünftig. Du bist noch zu schwach,
der Unterricht fällt sowieso aus und außerdem bist du krankgeschrieben.
Es ist völlig in Ordnung, wenn du zu Hause bleibst,
hörst du?«
    Ich höre, aber sie versteht nicht. Ich schiebe mich an ihr vorbei,
spüre, dass sie mich festhalten will, aber dann lässt sie resigniert
die Arme sinken, und ich greife im Flur nach meiner
Jacke.

    Ich steige aus dem Bus und sehe die Schule, sehe den Schulhof,
die Schwimmhalle, den Wohntrakt, die großen Scheiben der
Mensa, hinter denen die Jalousien immer noch zugezogen sind.
Ich sehe den Sportplatz neben der Schule, die silbernen Bäume.
Alles scheint wie immer.
    Unterwegs begegnet mir kein Mensch, während ich zum
Wohntrakt gehe, und ich bin dankbar dafür. In meinem Zimmer
ist mein Bett noch zerwühlt. Alles ist so, wie ich es zurückgelassen
habe, selbst meine Mütze liegt noch auf dem Boden, wo sie
mir jemand vom Kopf gezogen und einfach fallen gelassen hat.
Ich stelle meinen Rucksack ab und setze mich aufs Bett.
    Ich kann nichts – außer schlafen, essen und schwimmen.
    Eine Zeit lang habe ich geglaubt, ich könnte mehr als das.
Aber ich habe mich geirrt.
    Ich ziehe mein Handy aus dem Rucksack. Es ist kurz vor vier.
Die Trauerfeier wird gleich beginnen. Ich muss mich beeilen.

    Als ich in die Aula komme, bin ich erstaunt, wie voll sie ist. Bis
auf den letzten Platz sind alle Stühle besetzt. So viele Schüler
hat diese Schule? Wer von ihnen hat Melanie gekannt? Hat das
überhaupt jemand? Ich bin mir mittlerweile ziemlich sicher,
dass ich nicht zu denjenigen gehörte.
    Ich bleibe in der letzten Reihe, erwische noch einen freien
Platz und setze mich neben ein fremdes Mädchen. Sie sieht blass
aus. In ihrer Hand entdecke ich ein zerknülltes Papiertaschentuch.
    Ich lasse meinen Blick über die Köpfe vor mir gleiten, suche
vertraute Gesichter. Wo ist die Clique? Für einen kurzen Moment
glaube ich, den rasierten Kopf von Jonas in der Menge gefunden
zu haben, aber ich kann mich auch täuschen. Was ist mit
dem Jungen, der Mel neulich abgeholt hat? Ob er hier ist? Oder
gehört er zum engsten Familienkreis? Ich kann ihn nicht finden.
Endlich bin ich in der ersten Reihe bei den Lehrern angekommen.
Ganz außen, neben den Stühlen, blitzt silberner Chrom.
Der Rollstuhl von Bernges. Fast erwarte ich, dass er sich

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