Wie ein Flügelschlag
gehöre nicht hierher, nicht auf diese Seite des Weges und
auch nicht auf die andere. Das habe ich im Grunde schon die
ganze Zeit gewusst.
Wir gehören nicht zusammen, denke ich, und dieser Gedanke
füllt mich plötzlich ganz aus. Wir haben nie zusammengehört.
Trotzdem muss ich ihm antworten, will seine Frage nicht unbeantwortet
im Raum stehen lassen.
»Ich wollte das Grab sehen«, sage ich leise.
»Jetzt siehst du es.«
Mika wendet den Blick von mir ab und starrt wieder auf das
Grab, und endlich traue auch ich mich, es anzuschauen. Ein flacher
Hügel, die Blumen, die ihn bedecken, sind bereits erfroren,
obendrauf noch ein Kranz aus immergrünen Zweigen, eine
weiße Schleife mit goldener Schrift. In tiefer Liebe. Deine Mama,
dein Papa und dein Bruder Mika. Liebe. Ein schlichtes Holzkreuz
steckt da, wo später irgendwann ein Grabstein stehen wird. Melanie
Wieland. Mehr nicht. Nur ihr Name.
Das ist es also, was bleibt, denke ich. Das ist es, was von unseren
Träumen und Wünschen, von unseren Sehnsüchten, Hoffnungen
und auch unseren Ängsten übrig bleibt. Nur ein Name.
Ein Name, den bald niemand mehr kennt. Die Buchstaben auf
dem Kreuz verschwimmen vor meinen Augen und dann weine
auch ich. Die Tränen laufen mir übers Gesicht, und wie Mika
wische ich sie nicht weg, schäme mich nicht dafür. Auch wenn
Mika und mich im Moment alles trennt, die Tränen verbinden
uns doch.
Ich mache einen Schritt auf ihn zu, mein Fuß berührt den
Weg und zu meiner Überraschung ist er stabil und fest und ich
mache noch einen Schritt.
Eine Weile stehen wir nebeneinander und schweigen. Ich
würde gerne seine Hand nehmen, möchte ihn berühren, ihn
fühlen, aber er hat seine Hände weiter in seiner Jacke vergraben.
Auch ich ziehe meine nicht heraus. Er soll nicht sehen, dass ich
seine Handschuhe trage. Auf einmal ist es mir peinlich, dass ich
sie immer mit mir herumschleppe wie einen abgewetzten Teddybären,
für den man schon längst zu groß geworden ist.
Ich habe so viele Fragen, suche so viele Antworten. Aber ich
weiß nicht, wie ich es anstellen kann, dass er mir zuhört. Und
vor allem weiß ich nicht, ob er der ist, der die Antworten auf
meine Fragen kennt.
Doch schließlich halte ich es nicht länger aus. Ich muss es probieren.
»Weiß man schon … ich meine, woran … warum sie gestorben
ist?«
Er schüttelt den Kopf, aber dann antwortet er doch: »Herzversagen.
«
Ich nicke. Fast habe ich mit dieser Antwort gerechnet. Es ist
das, was meine Mutter mir sagte. Herzversagen. Versagen. Können
Herzen versagen? Ich horche in mich hinein. Mein Herz
hat mich hierher geführt. Mein Herz schlägt schneller, wenn ich
neben diesem Jungen mit den Meeresaugen stehe …
»Einfach so?«, frage ich leise. Kann ein Mensch, ein junger
kerngesunder Mensch einfach so sterben? Weil sein Herz versagt
hat?
»Einfach so.« Er nickt. »Es gab keinen Grund, außer vielleicht
dem, dass sie ein schwaches Herz hatte.«
Ein schwaches Herz? Ich schaue Mika überrascht an.
»Melanie hatte kein schwaches Herz. Niemals!«
Er fährt zusammen, weil meine Stimme auf einmal so laut
geworden ist, und ich bemühe mich, wieder leiser zu sprechen.
»Mika, dein Vater ist Arzt, das hätte er doch gewusst.«
»Was willst du damit sagen?« Er schaut an mir vorbei, so als
ob er nicht wirklich auf eine Antwort wartet.
Ich beiße mir auf die Lippen, versuche Worte zu finden für
das Ungeheuerliche, das mich seit Tagen beschäftigt und das ich
endlich mit jemandem teilen muss.
Ich berühre ihn am Arm und spüre, wie er sich versteift. Sofort
lasse ich ihn wieder los. Der Zauber, der zwischen uns lag,
ist zerstört. Ich habe ihn zerstört, aber es gibt jetzt keinen Weg
zurück. Ich suche nach den richtigen Worten. Ich bin mir ja
selbst nicht sicher, und mein Verdacht ist so ungeheuerlich, dass
ich nicht weiß, ob ich ihn überhaupt aussprechen darf.
»Ich glaube, dass Melanie Medikamente genommen hat,
Mika, ich glaube, dass sie gedopt hat.«
Jetzt ist es heraus. Mit klopfendem Herzen warte ich auf seine
Reaktion. Er sagt kein Wort, sieht mich nicht an. Er starrt nur
auf das Grab. Dann lacht er laut auf. Ich zucke erschrocken zusammen.
»Ja sicher«, lacht er. »Gedopt. Mit Tabletten aufgeputscht,
um besser zu sein.« Dann dreht er sich zu mir um, sein Gesicht
verzieht sich zu einer Fratze, seine Stimme ist ein einziger Schrei.
»Melanie hat nicht gedopt. Sie musste überhaupt nicht dopen,
um besser zu sein als du. Sie war immer besser als du. Sie
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