Wie ein Flügelschlag
mich feststopft.
»Bitte, Jana, du musst Geduld haben. Du bist doch gerade
erst wach geworden. Keine Sorge. Bald bist du wieder fit.«
Ich antworte ihr nicht, sondern drehe mich mit dem Gesicht
zur Wand. Ich ertrage es nicht, dass sie meine Tränen sieht.
Es dauert fast den ganzen Tag, bis ich endlich aufstehen kann.
Ich zittere immer noch, aber ich stehe. Ohne fremde Hilfe. Ich
greife nach meinem Jogginganzug und fange an, mich anzuziehen.
Meine Mutter hat inzwischen ein Taxi gerufen. »Bezahlt
die Schule«, hat sie auf meinen fragenden Blick geantwortet
und ich habe genickt. Ich will nicht in unsere Wohnung, aber ich
bin zu schwach, mich zu wehren.
Auf dem Weg nach unten wundere ich mich über die Stille
im Gebäude. Wo sind die alle? Welcher Tag ist heute? Ich klammere
mich an das Treppengeländer. Mir wird schlecht, ich muss
würgen.
»Jana?! Wo ist das Klo?«
Ich höre meine Mutter schreien, kann ihr nicht antworten,
weil ich viel zu beschäftigt damit bin, meinen Körper unter
Kontrolle zu halten. Ich starre sie nur aus aufgerissenen Augen
an, dann stürze ich an ihr vorbei und schaffe es gerade noch
rechtzeitig zu den Toiletten. Ich hänge über der Kloschüssel und
kotze und heule und frage mich, wie ich diesen Tag überleben
soll.
Als ich aufblicke, vollgeschmiert mit Rotze und meinen
Tränen, steht meine Mutter neben mir und hält mir ein nasses
Handtuch entgegen.
Als ich in die Küche komme, sitzt meine Mutter bereits mit
einer Tasse Kaffee am Tisch und starrt aus dem Fenster. Ich
setze mich zu ihr und sie schaut mich an.
»Wie geht es dir heute?«
»Ich bin okay.« Was soll ich sonst antworten? Mir tut alles
weh, jeder einzelne Knochen, mein Kopf fühlt sich an, als ob er
jeden Moment platzen würde, alles ist so hell, dass ich die Augen
am liebsten gleich wieder schließen möchte. Aber ich weiß, es
hilft nichts. Sobald ich die Augen zumache, sehe ich Melanie,
wie sie daliegt und schläft, mit ihren goldenen Haaren auf dem
kalten Fliesenboden neben dem Schwimmbecken. Ich blinzele
das Bild weg und schaue hinaus auf die Straße. Unter mir dreht
sich die Welt weiter, alles ist grau und wird immer grau bleiben.
»Willst du einen Kaffee?«
Ich schüttele den Kopf.
»Dann ein Glas Wasser. Du solltest etwas trinken. Das wird
dir guttun.«
»Seit wann weißt du, was mir guttut?« Viel zu laut steht
diese Frage im Raum. Meine Mutter zuckt zusammen und wendet
sich ab, damit ich ihre Tränen nicht sehe. Aber ich sehe sie
trotzdem. Ich halte es nicht aus, halte das alles nicht mehr aus,
ich muss raus hier, weg aus dieser grauen Wohnung, weg aus
der grauen Straße, einfach nur weg. Ich springe vom Tisch auf
und gehe in mein Zimmer, nehme meinen Rucksack und stopfe
wahllos Sachen hinein. Meine Mutter steht im Türrahmen, ihre
Augen sind rot, und es tut mir leid, dass sie wegen mir geweint
hat. So vieles tut mir leid, aber ich kann es nicht sagen, sofort
reißen mir die Eissplitter wieder den Hals auf, deshalb sage ich
nichts, schaue sie nur an und schüttele stumm den Kopf.
Das Telefon klingelt und sie verlässt den Raum.
»Danke. Ich werde es ihr ausrichten.«
Als ich das Wohnzimmer betrete, dreht meine Mutter mir
den Rücken zu und senkt die Stimme. »Nein, ich glaube nicht,
dass das eine gute Idee ist. Danke trotzdem für Ihren Anruf.«
Sie legt auf.
»Wer war das?«
»Dein Lehrer. Bernges oder so ähnlich.«
»Was wollte er?«
»Er hat sich erkundigt, wie es dir geht. Er lässt dich grüßen
und wünscht dir gute Besserung.«
Ich warte. Ich weiß, das war noch nicht alles. Fragend schaue
ich sie an. »Was ist keine gute Idee?«
Sie sieht ertappt aus. Versucht, meinem Blick auszuweichen.
»Ach, nichts.«
Aber ich lasse nicht locker, bis sie endlich mit der Sprache herausrückt.
»Es wird eine Trauerfeier geben.«
Sie unterbricht mich, als ich etwas sagen will.
»Nein, ich halte es für keine gute Idee, wenn du dort hingehst.
Du bist noch zu schwach.«
Eine Trauerfeier. Eine Trauerfeier für Mel. Ich sehe ihr Gesicht
vor mir. Sehe, wie sie mit weit ausgebreiteten Armen auf
dem Schulhof im Schneegestöber steht und mir von ihrer Theater-
AG erzählt. Sie hat davon geträumt, auf der Bühne zu stehen.
Sie hat so glücklich ausgesehen. Jetzt wird sie auf einer Bühne
stehen. Und alle werden sie sehen. Ich spüre wieder Tränen in
mir aufsteigen.
»Wann soll die Trauerfeier sein?«
Ich sehe, wie sie überlegt. Sie kämpft mit sich. Dann gibt sie
resigniert auf.
»Heute Nachmittag«,
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