Wie ein Flügelschlag
Wetter
ist schlecht. Kaum ein Mensch geht bei dieser Kälte freiwillig hinaus.
Aber dann treffe ich doch jemanden. Eine Frau führt ihren
Hund spazieren. Selbst der Hund will nicht nach draußen, sie
zieht an seiner Leine, sie ruft und lockt ihn, damit er mit ihr geht.
Ich frage sie nach dem Friedhof in diesem Viertel und sie zeigt
mir den Weg.
»Da haben sie gestern die kleine Wieland begraben.«
Warum sagt sie das? Ich habe sie nicht danach gefragt. Ich antworte
nichts, kann nur nicken.
»Warst du eine Freundin von ihr?«
Neugierig mustert sie mich von oben bis unten, und an ihrem
Blick sehe ich, dass sie sich die Antwort schon selbst gegeben
hat. Eine wie ich konnte niemals die Freundin von Melanie Wieland
sein. Sie sieht mich an, als ob sie bereits bereuen würde, mir
den Weg gezeigt zu haben.
»Was willst du denn da?«, fragt sie misstrauisch und hält die
Hundeleine ein Stück kürzer.
»Nichts«, sage ich und steige wieder auf mein Rad.
Mein Herz klopft bis zum Hals, als ich endlich vor dem Friedhof
stehe. Eine hohe verwitterte Backsteinmauer schirmt die Blicke
von außen ab. Efeuranken kriechen über die Mauer. Selbst der
eisige Winter scheint sie nicht aufzuhalten.
Das schmiedeeiserne Tor steht offen, ich bin nicht der erste
Besucher heute Morgen. Langsam betrete ich den Friedhof,
dessen Kiesweg mich an Melanies Zuhause erinnert. Ich bleibe
stehen und schnappe nach Luft. Die Erinnerung nimmt mir den
Atem. Die Kälte, die Stille, das Knirschen unter meinen Füßen,
all das fühlt sich auf einmal so vertraut an.
Stumme schwarze Bäume säumen den Weg vor mir. Sie sind
vollkommen anders als die Silberbäume aus dem Wald. Kein
Leuchten geht von ihnen aus.
Langsam drehe ich den Kopf und schaue mich um. Ich sehe
die Gräber, die links und rechts vom Weg liegen. Große Familiengräber
mit riesigen Grabsteinen. Die Daten auf den Steinen
sind alt, die Menschen, die hier ruhen, schon lange tot. Ich
überfliege die Namen. Nicht einer kommt mir bekannt vor. Und
trotzdem verbirgt sich hinter jedem Namen eine Geschichte,
jeder Name hatte einmal ein Gesicht.
Ich beschleunige meinen Schritt und versuche, mir einen
Überblick über den Friedhof zu verschaffen. Weiter hinten werden
die Bäume kleiner, dieser Teil muss jünger sein als der vordere.
Neben mir markiert ein riesiger Engel aus Stein die Weggabelung.
Zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort hätte ich
ihn vermutlich schön gefunden und seine langen geschwungenen
Flügel hätten mich zum Zeichnen animiert. Heute will ich
nur weitergehen. Will zum hinteren Teil des Friedhofs gelangen,
dahin, wo die frischen Gräber sind.
Und dann entdecke ich ihn. Er steht einfach da und starrt auf
etwas vor seinen Füßen. Die Mütze tief ins Gesicht gezogen,
den Kragen der Jacke hochgeschlagen. Die Hände hat er in die
Jackentaschen gestopft, und auch ohne sein Gesicht zu sehen,
kenne ich sofort die Farbe seiner Augen. Mika.
Langsam gehe ich näher, und mein Herz schlägt so laut, dass
er mich eigentlich jeden Moment hören muss. Nur ein Kiesweg
trennt uns noch. Und plötzlich weiß ich, dass dieser Weg viel
mehr ist als nur ein Weg. Er ist der Fluss, er ist die eine Grenze,
die man nicht einfach überschreiten kann.
Ich sehe Mika, sehe seine Schultern zucken, und ich weiß, dass
er weint. Ich möchte zu ihm laufen, ihn in die Arme nehmen, für
ihn da sein, ihn trösten, aber der Fluss ist zu breit, das Wasser war
viel zu tief, sie konnten zueinander nicht kommen, und ich bleibe
am Rand des Weges stehen und schaue nur zu ihm hinüber. Ich
wage es nicht, seinem Blick zu folgen, ich will das Grab nicht anschauen,
frage mich, was ich überhaupt hier zu suchen habe, ich
will die Wahrheit nicht sehen, die mich doch schon längst eingeholt
hat. Also stehe ich einfach nur da und warte, und auf einmal
hebt Mika den Kopf, lauscht, wendet sich zu mir um und schaut
mich an. Tränen laufen ihm übers Gesicht, aber er wischt sie
nicht weg. Ich bin froh, dass er sich seiner Tränen nicht schämt,
denn das hätte ich nicht ertragen.
Nur ein paar Schritte trennen uns, und trotzdem kommt es
mir vor, als läge zwischen meiner und seiner Seite des Weges ein
ganzes Leben. Melanies Leben.
Er sieht mich an, dann öffnet er den Mund. Seine Stimme
klingt rau, und ich frage mich, ob auch er die Eissplitter spürt,
die den Hals aufreißen und ihn am Schreien hindern.
»Was. Willst. Du. Hier?« Seine Worte zerhacken die Stille
zwischen uns, und mir wird klar, dass er recht hat.
Ich
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