Wie ein Flügelschlag
umdreht
und mir zulächelt. Aber sein Kopf bleibt gesenkt.
Jetzt kommt nur noch die Bühne. Ich will das nicht sehen.
Ich will die Kerzen auf dem Tisch nicht sehen. Ich schließe die
Augen, aber es ist zu spät. Ich habe das Foto schon entdeckt. Ein
riesiges gerahmtes Schwarz-Weiß-Bild von einer lachenden,
fröhlichen Melanie steht vorne auf einem Tisch, der mithilfe
von Kerzen und Blumen zu einer Art Altar umfunktioniert worden
ist. Obwohl ich so weit weg sitze, kann ich das Blitzen in
Melanies Augen sehen. Ihr Gesicht schiebt sich über das Bild in
meinem Kopf, das Gesicht, das mich vom Boden des Schwimmbads
aus zu sich zog und seitdem nicht wieder losgelassen hat.
Ich würge und presse meine Lippen zusammen. Das Mädchen
neben mir sieht mich erschrocken an und rückt schnell ein
Stück von mir ab.
Von irgendwoher erklingt Musik. Ein Tonband. Jemand
weint. Ich frage mich, wer das wohl ist. Komisch. Die Tränen
hinter meinen Augen sind nicht mehr da. Neben mir schnäuzt
sich das Mädchen in sein Taschentuch. In mir ist alles kalt.
Selbst die Tränen sind gefroren. Wächst sie mir jetzt endlich, die
Silberhaut?
Vorne hält jemand eine Rede. Es ist einer der Lehrer. Drexler
ist es nicht. Hätte nicht er diese Rede halten müssen? Ich vernehme
seine Stimme, aber ich verstehe nicht, was er sagt. Ich
höre Worte wie Talent, Begabung, Ehrgeiz. Er spricht von Verantwortung
und von Verlust. Trauer und Schmerz. Und Pflicht.
Von Liebe spricht er nicht. Und auch nicht vom Doping. Nicht
davon, woran Melanie tatsächlich starb. Irritiert versuche ich,
die Worte in meinem Kopf zu wiederholen. Kann das sein?
Spielt es überhaupt keine Rolle, was wirklich geschehen ist?
Ich möchte aufstehen und schreien. Möchte die Wahrheit herauslassen.
Melanie ist nicht einfach so gestorben. Sie ist tot, weil
sie von anderen aus diesem Leben getrieben wurde. Aber mein
Körper gehorcht mir nicht. Meine Beine wollen nicht aufstehen.
Ich spüre, wie die Silberhaut weiter wächst. Sie kriecht über
meinen Rücken, hat bald meine Schultern erreicht. Gleich wirst
du schlafen, kleiner Schmetterling, hundert Jahre schlafen.
Ich denke an den Schnee draußen, das Eis auf der Bahn, erinnere
mich an die tanzenden Flocken auf meinem Haar. Wie es
sich wohl anfühlt, unter dem Schnee zu schlafen?
Der Direktor ruft zu einer Schweigeminute auf. Stühlerücken.
Irgendwo ein Husten. Die Menschen um mich herum stehen
auf. Sie wirken erleichtert, dass sie nicht länger untätig dasitzen
müssen. Endlich können sie etwas tun. Aufstehen und schweigen
und dann haben sie es geschafft. Vereinzelt ist noch ein
Schluchzen zu hören. Aber nicht alle Köpfe sind gesenkt. Hier
und da sieht einer aus dem Fenster. Draußen wartet die Welt.
Das Leben ein Traum
. Melanies Worte fallen mir ein. Handelt
von einem Vater, der seinen Sohn in einen Turm sperrt, um ihn von
der Welt fernzuhalten. Oder die Welt von ihm.
Der Unterricht wurde für den Rest der Woche abgesagt, die
meisten haben das Internat nach der Trauerfeier verlassen und
sind nach Hause gefahren. Ich bin geblieben. Ich hätte es nicht
ertragen, wieder die Wand zwischen meiner Mutter und mir zu
spüren. Ich bin gegen zu viele Wände gerannt in letzter Zeit.
Unter meinen Pullovern und Decken habe ich einen ganzen
Tag einfach nur im Bett gelegen und gewartet, dass die Stunden
verstreichen. Und dabei zugesehen, wie die Haut wächst.
Als ich am Morgen wach werde, bemerke ich erstaunt, dass
meine Haut aussieht wie immer. Ich hatte Schuppen erwartet.
Oder Federn. Silberne Federn. Erst als ich vor dem Spiegel
stehe, sehe ich es. Zwischen all den kurzen schwarzen Haaren
leuchtet es auf. Über Nacht ist mir ein silbernes Haar gewachsen.
Meine Finger reißen es aus.
Eine Weile sitze ich noch auf dem Bett, dann fasse ich einen Entschluss.
Ich will zum Friedhof, ich will, nein, ich muss Melanies
Grab sehen. Ich muss etwas tun gegen das Bild in meinem Kopf,
das mir die Luft nimmt und mich am Atmen hindert. Ich setze
meine Mütze auf, nehme den Schlüssel vom Schreibtisch und
mache mich auf den Weg zu den Fahrrädern. Wieder begegnet
mir niemand, es ist, als ob sich alles Leben aus diesem Gebäude
zurückgezogen und verkrochen hätte.
Ich weiß nicht genau, wo der Friedhof liegt. Also fahre ich zunächst
einmal ins Musikerviertel und hoffe, dass ich dort jemanden
treffe, den ich nach dem Weg fragen kann.
Auch hier sind die Straßen leer, weiße Eisstückchen fallen
vom Himmel, ein Gemisch aus Regen und Schnee. Das
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