Wie ein Flügelschlag
hätte
nicht einmal trainieren müssen, um besser zu sein! Du, du hast
sie umgebracht, du mit deinem Scheiß-Ehrgeiz!«
Entsetzt presse ich mir die Hand vor den Mund, ersticke den
Laut, der aus meiner Kehle aufsteigt, und mache einen Schritt
zurück. Dann noch einen und noch einen. Ich stolpere über
einen Randstein, falle fast auf ein Grab, fange mich wieder, drehe
mich um und renne davon. Aber egal, wie schnell ich auch laufe,
der Satz verfolgt mich und wird mich vermutlich für immer verfolgen. Du, du hast sie umgebracht!
Er trat ein paar Schritte zurück und verschaffte sich einen Überblick
über das Spiel.
Dann reichte er den Queue weiter.
Der nächste Stoß gebührte dem anderen.
Mit Genugtuung sah er, wie dessen Hand zitterte.
Ich will mein Zimmer nicht verlassen, will nicht in den Unterricht
gehen, will am liebsten niemanden sehen. Aber ich habe
schon das Morgentraining geschwänzt, heute ist es mir egal, was
Drexler sagt, vermutlich wird er gar nichts sagen, weil ich ja offiziell
noch krankgeschrieben bin. Ich überlege kurz, ob ich mich
darauf berufen und im Bett bleiben soll, aber ich weiß, dass es
nichts bringt, wenn ich mich in meinem Zimmer verkrieche.
Wenn ich mehr darüber herausfinden will, warum Melanie
sterben musste, dann muss ich vor allem eins: selbst weiterleben.
Zumindest das ist mir auf dem Friedhof neben Mika klar
geworden.
Ich nähere mich dem Klassenraum und wundere mich darüber,
wie normal sich alles anfühlt. Auf den Gängen sind die gleichen
Gesichter wie immer. Ich höre die gleichen Stimmen. Die gleichen
Witze, die gleichen dummen Sprüche fliegen hin und her.
Die meisten aus meiner Klasse sind schon hineingegangen, ich
höre Nora irgendwas rufen und Vanessas albernes Lachen. Erstaunt
stelle ich fest, wie schnell alle wieder zur Tagesordnung
übergehen, wie schnell sie vergessen haben, dass eine von uns
fehlt.
Dann öffne ich die Tür und weiß im nächsten Moment, dass
ich mich geirrt habe. Niemand hat irgendetwas vergessen.
Die Gespräche verstummen, sobald ich den Raum betrete.
Eisiges Schweigen schlägt mir entgegen. Achtzehn Augenpaare
starren mich an, verfolgen jeden meiner Schritte. Ich nähere
mich meinem Platz und versuche, einen der Blicke aufzufangen,
aber sobald mir das gelingt, dreht derjenige den Kopf weg. Ich
schaue zu Tom, er hält ein paar Sekunden länger durch als die
anderen. Ich möchte ihn fragen, was das soll, aber ich bringe keinen
Ton heraus. Dann wendet auch er sich ab.
»Dass die sich hertraut«, flüstert jemand, als ich zu meinem
Platz gehe.
»Wieso ist die eigentlich immer noch hier?«, fragt Nora laut
in den Raum. Ich starre sie an.
»Keine Ahnung«, antwortet Bea.
»Was … was soll das?« Ich ärgere mich, dass meine Frage
mehr ein Stammeln ist. Aber die Kälte in diesem Raum schlägt
mir mit so geballter Kraft entgegen.
»Das frage ich mich allerdings auch«, erwidert Jonas. Mit vor
der Brust verschränkten Armen steht er vor mir. »Was soll das?
Wieso bist du noch hier? Was hast du hier zu suchen?«
Ich starre ihn an. Fassungslos. Mache einen Schritt in seine
Richtung. Da rempelt mich jemand an. Ich stolpere auf Jonas zu,
der im letzten Augenblick zur Seite weicht. Nur mit Mühe kann
ich mich an dem Tisch hinter ihm abfangen.
Sofort wirbele ich herum, um herauszufinden, wer mich gestoßen
hat. Aber wieder schaue ich nur in schweigende Gesichter.
Ich suche nach Tom. Tom, der sonst immer versucht hat zu
vermitteln, der anders war als die anderen. Tom, der mir geholfen
hat, der mich zu einer Tasse heißem Kakao eingeladen und
sich mit mir gemeinsam Sorgen um Melanie gemacht hat. Der
Einzige, der mir manchmal das Gefühl gegeben hat, ein Freund
zu sein. Als ich endlich seinen Blick einfange, erschrecke ich.
Aus seinen Augen spricht pure Verachtung. Ich nehme meinen
ganzen Mut zusammen.
»Antworte du mir wenigstens. Was ist hier los?«
Tom macht den Mund auf, will etwas sagen, aber da wird er
von Bea zur Seite geschoben.
»Ich sage dir, was hier los ist. Melanie ist tot.« Bea spuckt mir
die Worte fast vor die Füße.
»Ich weiß. Ich habe es schließlich als Erste gesehen.« Den
nächsten Satz schreie ich. »Und ich habe sie nicht umgebracht!«
»Bist du dir da so sicher?« Die Frage kommt von hinten, es ist
Nora, die sie gestellt hat.
Ich fahre herum und sehe sie an.
»Was hast du gesagt?«, stoße ich hervor. Ich greife nach einer
Stuhllehne, will mich irgendwo festhalten.
»Ich habe dich gefragt, ob du dir da so sicher
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