Wie ein Flügelschlag
er bei diesen
Worten zusammenzuckt, »das ändert sich auch nicht, wenn ich
zu Hause bin.«
Der Wandel in seinem Gesicht vollzieht sich so schnell, dass
ich ihn fast nicht wahrnehme. Wo er mich zuvor mit geradezu
väterlicher Besorgnis gemustert hat, sehe ich jetzt nur noch
Unmut und mühsam beherrschten Zorn. Er steht auf und geht
wieder zum Fenster.
»Ich will und werde dich nicht zwingen, mein Angebot anzunehmen,
Jana«, sagt er und blickt auf den Schulhof, dann wendet
er sich mir ruckartig zu. »Aber ich warne dich.«
Ich beiße die Zähne zusammen und halte seinem Blick stand.
»Hör mit diesen unhaltbaren Verdächtigungen auf. Dieses
Internat hat seit über hundert Jahren nicht einen einzigen Skandal
gehabt.« Er sieht mich aus zusammengekniffenen Augen an.
»Und es wird auch jetzt keinen haben. Das Wort Doping will ich
in diesem und auch in keinem anderen Zusammenhang mehr
hören. Ist das klar?«
Die Erleichterung, die mich durchflutet, ist so groß, dass ich
um ein Haar laut gelacht hätte. Daher also weht der Wind. Er hat
Angst um den Ruf seiner Schule. Das ist alles.
»Ob das klar ist, habe ich gefragt?« Sein Blick durchbohrt
mich und erst in diesem Moment wird es mir wirklich klar: Die
Schulleitung hat die Akte Melanie Wieland längst geschlossen.
Die Wahrheit interessiert hier niemanden. Es geht nur um den
guten Ruf.
Ich hasse mich, als ich mich sagen höre: »Ja. Natürlich. Das
ist vollkommen klar.«
Während ich die Tür hinter mir schließe und den langen
Gang zurück zum Wohntrakt gehe, frage ich mich, ob man auch
an Worten, die man nicht gesagt hat, ersticken kann.
Zurück in meinem Zimmer finde ich eine SMS von Mika auf
meinem Handy. Er bittet mich um ein weiteres Treffen, weil er
mir etwas Wichtiges sagen will. Ich denke an mein Versprechen,
das ich gerade eben erst gegeben habe, und beschließe, dass ich
es ja nicht breche, wenn ich mit Mika rede. Schließlich hat der
Direktor mir nur verboten, weiter öffentlich Mutmaßungen über
Melanies Tablettenkonsum anzustellen. Mich mit anderen über
Melanie zu unterhalten, ist nicht verboten. Ich schreibe ihm zurück
und schon wenige Sekunden später vibriert das Handy und
kündigt mir den Eingang von Mikas Antwort an.
Wieder treffen wir uns im Park. Und wieder an der gleichen
Bank wie am Tag zuvor. Diesmal begrüßt Mika mich mit einer
kurzen Umarmung. Immerhin. Ich würde ihn gerne länger festhalten,
würde mich gerne an ihn schmiegen und seinen Duft
einatmen. So sehr sehne ich mich nach seiner Nähe, dass es fast
körperlich wehtut, ihn nicht zu spüren. Aber ich habe Angst, ihn
zu verschrecken. Habe Angst, dass er sich wieder ganz von mir
zurückzieht, wenn ich ihm zu nahe komme. Ich zwinge mich aus
seiner Umarmung und nehme auf der Bank Platz. Erst will ich
hören, was er zu sagen hat.
Mika wirkt sehr aufgeregt. Er setzt sich nicht, sondern läuft
vor mir auf und ab.
»Die Unterlagen sind weg«, bricht es aus ihm heraus.
»Die Unterlagen?« Ich verstehe nur Bahnhof. »Welche Unterlagen?
«
»Die Trainingsunterlagen von Mel. Sie sind komplett verschwunden.
«
Als Mika bemerkt, dass ich ihn verwirrt anstarre, wird er ungeduldig.
»Jana, du weißt doch, dass zu jedem von euch eine Trainingsdatei
existiert, richtig?«
Ich nicke. Klar weiß ich das. Das war schon in meinem alten
Schwimmverein so und das ist im Internat nicht anders. Wer
Leistungssport betreibt, der bekommt so eine Kartei. Darauf
wird in regelmäßigen Abständen alles vermerkt, was im Zusammenhang
mit dem Training und der körperlichen Entwicklung
wichtig ist. Größe, Gewicht, Ruhepuls, Belastungspuls, Trainingszeiten,
Wettkampfzeiten, Ernährungspläne … Letztere
führten immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen
Drexler und Bea, die sich einen Teufel um ihr Gewicht und
seine Ernährungspläne scherte. Aber das war auch der springende
Punkt. Die Kartei wird vom Trainer geführt. Nicht vom
Sportler. Woher also will Mika wissen, dass Mels Kartei verschwunden
ist?
Mika stöhnt ungeduldig auf. »Die sportärztlichen Untersuchungen,
die Belastungstests, wo wurden die durchgeführt?«,
will er von mir wissen.
Langsam beginne ich zu begreifen. Für die Tests mussten wir
in die Klinik kommen.
»Dein Vater arbeitet dort«, flüstere ich.
Mika nickt. »Und deshalb gibt es zu Hause im Büro meines
Vaters zu jeder Trainingskartei von euch eine Kopie, auf der eure
medizinischen Daten stehen. Ich weiß das deshalb, weil ich diese
Karteikarten mal holen und ihm in die
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