Wie ein Flügelschlag
schreie ich. »Melanie
hat sich selbst umgebracht. Mit diesem beschissenen Dopingmittel!
«
Die anderen starren mich an.
»Und vermutlich seid ihr alle gerade dabei, euch auch umzubringen.
Sie hat das Zeug doch für euch besorgt, war es nicht
so?« Ich weiß, dass ich besser die Klappe halten sollte, aber ich
kann nicht mehr aufhören.
»Wie viel habt ihr Mel dafür bezahlt, dass sie euch damit versorgt?
Los, sagt schon! Was musstet ihr auf den Tisch legen?
Verdammt noch mal, Melanie ist tot. Tot, tot, TOT!« Ich bebe
vor Zorn, möchte um mich schlagen, aber die anderen weichen
vor mir zurück. Tränen laufen mir übers Gesicht. Ich starre Vanessa
an, sehe das Entsetzen in ihrem Blick, bevor auch sie ein
paar Schritte zurück macht. »Melanie ist tot, weil sie irgendwelchen
Scheiß geschluckt hat, begreift ihr das nicht? Weil sie
glaubte, uns allen beweisen zu müssen, dass sie die Beste ist.
UNS ALLEN! Wenn jemand sie umgebracht hat, dann waren
wir alle das!« Ich kann nicht mehr schreien, die Eiskristalle
haben wieder von mir Besitz ergriffen. Ich schnappe nach Luft,
versuche zu atmen, drehe mich um und sehe Drexler hinter mir.
»Jana Schwarzer, du wirst vorläufig nicht mehr in dieser
Gruppe trainieren. Bitte verlass sofort die Halle.« Seine Stimme
ist ganz ruhig, als er das sagt.
Ich drehe mich um und gehe.
Erst am nächsten Morgen fällt mir der iPod wieder ein. Behutsam
ziehe ich ihn aus meinem Rucksack und lege ihn auf
mein Bett. Ich muss lächeln, als ich an Mikas Gesichtsausdruck
denke. Pink. Dornröschenfarbe, schießt es mir durch den Kopf. Du sollst hundert Jahre schlafen.
Ich setze mich aufs Bett und nehme die Ohrstöpsel in die
Hand. Kurz zögere ich. Es scheint mir falsch, Melanies Musik zu
hören. Es ist wie das Eindringen in eine verbotene Welt. In eine
Welt, in die sie mir nicht mehr folgen kann.
Aber dann sage ich mir, dass es im Grunde Melanies Welt ist.
Und dass ich sie vielleicht dort finde. Vielleicht ist es eine Möglichkeit,
Melanie ein Stück weit zu mir zurückzuholen.
Ich stecke mir die Kopfhörer in die Ohren und schalte den
iPod an.
Ich kenne die Musik nicht. Aber der Text trifft mich mitten
ins Herz. Er handelt von einem silbernen Teich irgendwo in
einem Wald. Auch Melanie hat das Silber gesehen, denke ich.
Und dann höre ich den Refrain:
Birds in cages sing of freedom …
Vögel in Käfigen singen von Freiheit … freie Vögel tanzen
durch die Luft.
Ich denke an Rihanna, an ihr I want to fly , das mich durch so
viele Tage begleitet hat. Auch Melanie wollte fliegen.
Ich liege auf meinem Bett, die Tränen laufen von meinem
Gesicht über den Hals und sickern in mein Kopfkissen. Mit der
Hand berühre ich meine Schulter, so als müsste ich den kleinen
Schmetterling, der dort sitzt, vor den Käfigen in dem Song
schützen.
Ich weiß nicht, wie lange es schon an meiner Tür geklopft hat,
aber irgendwann ist das Lied zu Ende, und da höre ich es.
Es ist Tom, der mir die Nachricht überbringt, dass unser
Schuldirektor mich in einer Stunde sprechen will. Kurz sehe
ich die Bestürzung in seinem Gesicht, ich hatte mir nicht die
Mühe gemacht, meine Tränen wegzuwischen. Ich warte darauf,
dass Tom noch mehr sagt, suche in seinem Blick etwas von dem
Tom, der er noch vor wenigen Tagen für mich war. Der Tom, der
mich zu einem Kakao eingeladen und mir geholfen hat, meine
Klamotten vom Baum zu angeln, der Tom, der immer darum
bemüht war, Streit zu schlichten und für andere da zu sein. Aber
ich sehe in das Gesicht eines Fremden. Resigniert schließe ich
die Tür wieder hinter ihm und versuche, mich auf das Gespräch
mit der Schulleitung vorzubereiten.
Seit zehn Minuten sitze ich nun schon im Flur inmitten der berühmten
Heldengalerie und betrachte die Pokale, Medaillen
und Fotos der vergangenen Jahrzehnte. Auf einigen der Bilder
habe ich Melanies Vater entdeckt. Er hat sich nicht sehr verändert,
aber selbst wenn, hätte ich ihn an den Namensschildchen
erkannt, die irgendjemand unter all den Fotos angebracht hat.
Mir fällt ein, wie wütend Melanie geworden war, als ich sie
zum ersten Mal auf ihren Vater angesprochen hatte. Ich seufze.
Nun würde ich es wohl nicht mehr schaffen, in dieser Galerie
verewigt zu werden. Warum sonst sollte mich der Direktor
sprechen wollen, wenn nicht, um mir mitzuteilen, dass ich die
Schule verlassen muss.
Endlich öffnet sich die Tür und die Schulsekretärin bittet
mich herein. Ohne ein weiteres Wort führt sie mich durch das
Vorzimmer in das Büro
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