Wie ein Flügelschlag
Richtung des kleinen Parks, in dem wir jetzt schon zweimal
gesessen haben.
Die Sonne hat die Menschen ins Freie gelockt. Auf dem
Spielplatz spielen ein paar Kinder in dicken Winteranoraks, bewacht
von ihren Müttern und Vätern, die auf den Bänken sitzen
und die Gesichter in die ersten warmen Strahlen in diesem Jahr
halten. Ein paar Spaziergänger sind unterwegs, Hunde laufen
über die Wiese und stoßen mit ihren Schnauzen in die Reste
des braunen Rasens, den der Schnee und das Eis übrig gelassen
haben.
Mika zieht mich auf unsere Bank. Ich möchte etwas sagen,
aber er legt mir den Finger auf die Lippen, dann umfassen seine
Hände meine Wollmütze und er streift sie mir vom Kopf. Er
öffnet meine Winterjacke und schiebt sie mir langsam von den
Schultern.
Ich sehe in sein Gesicht, sehe seine Augen. Meeresaugen. Ich
werde in ihnen ertrinken. Das weiß ich. Ich werde untergehen
und jämmerlich ertrinken.
Er legt mir seine Hände auf die Wangen. Rechts und links,
dann zieht er meinen Kopf zu sich heran. Ganz dicht. So dicht,
dass ich bald nichts mehr wahrnehme, nichts außer dem tiefen
Blau in seinem Blick, der auf mich gerichtet ist. Dann spüre ich
seine Lippen auf meinen, und es ist wie ein Blitz, der durch meinen
Körper schießt.
Mika zieht mich noch etwas fester zu sich heran. Ich spüre
seine Zunge, die sich einen Weg sucht, die meine Lippen teilt,
während er eine Hand von meinem Gesicht nimmt und unter
mein Sweatshirt schiebt. Ich fühle seine Hand auf meinem Rücken,
fühle ihre Hitze, wo sie mich berührt, öffne meinen Mund
und lasse ihn hinein. Meine Silberhaut fällt von mir ab wie ein
Kokon, ich kann mich nicht dagegen wehren.
Meine Hände greifen in seine Locken, ich presse ihn fester an
mich, will noch tiefer in seinen Augen versinken, und auf einmal
höre ich das Lachen. Tief in mir drin sitzt es und lacht, weil ich
begreife, dass ich nicht ertrinken kann. Nicht, solange ich frei
bin und fliege.
Wir küssen uns noch eine Weile, können uns nicht voneinander
lösen, und irgendwann trauen auch meine Hände sich, seine
Haut zu suchen und zu erforschen. Unsere Zärtlichkeiten sind
wie ein Versprechen. Ein Versprechen, dass auch dieser Winter
irgendwann vorüber sein wird. Ein Versprechen, dass auch das
letzte bisschen Eis in uns verschwinden kann, wenn erst der
Frühling kommt.
Mikas Hand schiebt sich unter dem Sweatshirt so weit zu
meiner Schulter hoch, dass er mit seinen Fingerspitzen über
mein Tattoo streichen kann.
»Wach auf, kleiner Schmetterling«, flüstert er. »Nur ein Flügelschlag
und du bist frei.« Zärtlich berührt er mit seinen Lippen
meine Schulter und ich ziehe seinen Kopf in meine Arme,
stecke die Nase in seine Locken und möchte ihn einfach nur einatmen.
Unter Wasser atmen.
Es war so weit.
Nur noch die schwarze Kugel lag auf dem Spielfeld.
Es war sein Stoß. Er war derjenige, der sie versenken würde.
Der Queue lag ruhig in seiner Hand. So viele Jahre hatte er auf
diesen Augenblick gewartet.
In wenigen Stunden würde er frei sein. Dann hätte alles ein Ende.
Er musste nur noch dafür sorgen, dass sie mit ihm kam.
Das war das Einzige, das er bedauerte.
Sie würde es nicht freiwillig tun.
Aber am Schluss würde sie ihm dankbar sein.
Denn sie war wie er.
Meine Mutter muss sofort Bescheid gewusst haben.
Als ich nach Hause kam, war es schon spät am Nachmittag.
Sie hat nichts gesagt, aber das musste sie auch nicht. In ihrem
Blick las ich alles, was ich nicht aussprechen konnte. Und noch
etwas anderes. Etwas, das neu für mich war: Verständnis.
Wir aßen zusammen zu Abend, dann ging ich früh in mein
Zimmer. Schlafen konnte ich nicht, dazu war an diesem Tag zu
viel passiert. Eine Weile badete ich noch in der Erinnerung an
Mikas Hände, berührte meinen Körper dort, wo er ihn berührt
hatte, und versuchte, mir den Geschmack seiner Küsse ins Gedächtnis
zu rufen. Aber mit dem Lauf der Nacht kam auch alles
andere zurück. Die Erinnerung an unsere Entdeckungen, der
Schock, Bernges im Schwimmbad zu sehen, und Mikas Satz:
Manchmal frage ich mich, ob wir nicht besser damit aufhören sollten.
Auch darüber haben wir gestern noch gesprochen. Wie er das
gemeint habe, fragte ich Mika, und er antwortete, er habe das
genau so gemeint, wie ich es verstanden hätte.
»Melanie ist tot«, sagte er. »Und letztendlich ist es egal, ob
sie ohne Einfluss von Medikamenten an Herzversagen gestorben
ist oder ob sie Dopingmittel benutzt hat. Egal, was wir herausfinden,
es wird sie
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