Wie ein Flügelschlag
der großen Schranktüren.
Auf Brusthöhe ist eine Kleiderstange angebracht, Kleiderbügel
mit Hemden und Hosen hängen daran und auch einige
Jacketts, alles sorgsam nach Farben sortiert. Auf dem Schrankboden
stehen Schuhe, paarweise nebeneinander. Auch hier
keinerlei Anzeichen für eine andere Identität. Und, füge ich in
Gedanken hinzu, bisher auch keinerlei Anzeichen dafür, dass
Bernges irgendetwas mit dem
Construnit
zu tun haben könnte.
Enttäuscht ziehe ich die zweite Schranktür auf.
»Mein Gott.« Ich halte die Luft an, als ich die Kammer sehe,
die sich dahinter verbirgt. Der linke Teil des großen Wandschranks
ist tatsächlich viel tiefer als der rechte. Und hier befinden
sich weder Kleiderstangen noch Regale. Vor mir erstreckt
sich eine Art Tischplatte, die in den Schrank eingebaut ist, darüber
hängt eine Pinnwand, über und über mit Zeitungsartikeln
und Fotos bestückt. Der Tisch selbst ist unter den Zeitungsausschnitten,
Fotos und Papieren kaum noch zu sehen.
Mein erster Impuls ist, die Tür wieder zu schließen und so
schnell wie möglich zu verschwinden. Aber ich bleibe stehen,
meine Füße kleben geradezu am Boden, das Herz schlägt mir
bis zum Hals. Zum ersten Mal, seit ich diese Wohnung betreten
habe, verspüre ich Angst. Nackte Angst. Was werde ich hier finden?
Wer ist Markus Bernges wirklich?
Ich greife wahllos nach einem der Papiere und hebe es hoch.
Ich schnappe entsetzt nach Luft. Was ich in der Hand halte, ist
die Todesanzeige von Melanie. Sauber aus der Zeitung ausgeschnitten.
Melanie Wieland. Unsere geliebte Tochter und Schwester.
Für immer von uns gegangen. Viel zu früh.
Ich muss mich zwingen, den Zeitungsausschnitt nicht fallen
zu lassen, sondern ihn vorsichtig wieder zurück auf den Tisch
zu legen. Ich beuge mich weiter vor und betrachte die Artikel,
die an der Pinnwand hängen. Manche sind schon total vergilbt,
sie müssen bereits ziemlich alt sein. Mein Blick gleitet über die
Schlagzeilen. Bleibt an einem Namen hängen. Ralf Wagner.
Wieder
einmal lässt Ralf Wagner die Konkurrenz weit hinter sich zurück.
Mein Herz setzt für einen Schlag aus. Ich lese die nächste
Überschrift.
Elitestaffel unter Führung von Klaus Wieland und Ralf
Wagner zum 15. Mal in Folge ungeschlagen.
Auf einem anderen
Zeitungsausschnitt winkt ein etwa Fünfzehnjähriger fröhlich in
die Kamera. Um seinen Hals baumelt eine Medaille.
Spannendes
Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Klaus Wieland und Ralf Wagner.
Ralf Wagner, Markus Bernges, Ralf Wagner. Die Namen hämmern
hinter meiner Stirn. Ich greife zu meinem Handy und
suche Mikas Nummer. Vor lauter Aufregung vertippe ich mich,
muss noch einmal von vorne durch das Menü blättern, bis ich
ihn finde. Es dauert lange, bis er endlich rangeht.
»Jana, bist du das? Ich kann jetzt nicht telefonieren, ich bin
in der Schule. Du hast Glück, dass ich das Blinken am Handy
überhaupt gesehen habe.«
»Mika, ich … ich habe was gefunden«, stammele ich.
»Hat das nicht Zeit bis heute Nachmittag? Ich muss wieder
zurück in den Unterricht.«
»Nein, Mika, warte. Wir haben richtiggelegen. Markus Bernges
heißt in Wirklichkeit Ralf Wagner. Er und dein Vater müssen
einmal regelrechte Schwimm-Asse gewesen sein, die sich
ein Rennen nach dem anderen lieferten, aber auch in der gleichen
Staffel schwammen.«
»Woher willst du das wissen?« Mika klingt nun doch interessiert.
»Ich habe hier Zeitungsausschnitte gefunden. Massenweise
Artikel über Bernges, also über Ralf Wagner, und deinen Vater.«
Ich zögere einen Moment. »Aber da ist noch mehr. Er hat auch
eine Todesanzeige von Melanie ausgeschnitten.«
»Er hat was? Und was heißt ausgeschnitten? Und wer ist
›er‹? Von welchen Zeitungsausschnitten sprichst du? Jana, wo
bist du überhaupt?«
»In Bernges' Wohnung. Er hat einen versteckten Arbeitsplatz
in …«
»Du bist WO?« Mika schreit jetzt fast. »Wie bist du da reingekommen?
Jana, bist du wahnsinnig? Das ist doch total gefährlich!
«
Ich weiß nicht, ob ich mich über die Besorgnis in seiner
Stimme freuen oder ärgern soll.
»Mika, hier finden wir vermutlich alle Antworten auf unsere
Fragen. Warte, da hängt noch ein Zeitungsausschnitt, der ist rot
eingerahmt.« Ich nehme das Stück Papier vorsichtig von der
Pinnwand. »Oh mein Gott«, entfährt es mir, als ich den Text
überfliege.
»Jana? Was ist los? Was hast du da?«
»Mika, hör dir an, was in dem Artikel steht:
Tragischer Unfall eines der größten Hoffnungsträger des
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