Wie ein Flügelschlag
sollte.«
»Noch mehr trainieren?«, entgegnete Tom. »Man kann es
auch übertreiben, erklär das deinem Vater doch mal. Irgendwann
brauchen die Muskeln auch eine Erholung, um wachsen
und sich entwickeln zu können. Jeder, der halbwegs was von
Sport versteht, weiß das.«
Mel sagte nichts mehr. Ich musste an die Galerie in der Schule
denken. Mels Vater wusste mit Sicherheit ganz genau, wie ein
guter Trainingsplan auszusehen hatte. Außerdem war er Arzt.
Fehlende Fachkenntnis war es also kaum, was ihn auszeichnete.
Eher fehlendes Feingefühl vielleicht.
»Was hat dein Vater gegen das Theaterspielen?«, versuchte
ich es noch einmal. »Im Grunde ist es doch egal, was du mit
deiner Freizeit anstellst, solange es dem Training nicht schadet,
oder?«
»Können wir bitte über etwas anderes reden als über meinen
Vater?« Mel stellte ihre Kakaotasse so heftig ab, dass sie klirrte.
Im Café war es ganz still geworden. Es schien, als ob alle Gespräche
an den Tischen ringsum schlagartig beendet waren. Nur
Mels Satz hing noch in der Luft.
Verlegen sahen wir uns an.
Dann, genauso plötzlich, wie sie verstummt waren, setzten
die Gespräche wieder ein. Es war, als hätte die Welt einfach für
kurze Zeit den Atem angehalten. Jetzt drehte sie sich weiter.
Tom fand als Erster die Sprache wieder. »Da ist wohl ein
Engel durch den Raum gegangen«, sagte er leise.
»Ein Engel?« Ich starrte Tom an. Auf einmal sah ich sein Helfersyndrom
in einem neuen Licht. War er vielleicht religiös?
»Meine Oma hat das immer gesagt. Wenn es an einem Ort
voller Menschen plötzlich ganz still wird, dann geht gerade ein
Engel durch den Raum.« Er grinste verlegen. »Als kleiner Junge
fand ich die Vorstellung von Engeln, die einfach so unsichtbar
bei uns herumspazieren, wahnsinnig spannend und gruselig.«
»So ein Quatsch.« Melanie schüttelte den Kopf. Aber sie
wirkte erleichtert, dass das Gespräch eine andere Richtung genommen
hatte. Sie bückte sich und kramte in ihrem Rucksack.
»Apropos gruselig. Hier, ich hab es vorhin vor den Proben
abgeschrieben. Danke noch mal, allein hätte ich das nie hingekriegt.
« Sie schob mir mein Matheheft zu.
»Hab ich was verpasst?« Neugierig schielte Tom auf das Heft.
»Jana hat mich netterweise die Mathe-Hausaufgaben abschreiben
lassen. Ich habe es einfach nicht kapiert.«
»Mathe, ach so. Mathe ist kein Problem. Warum mein Alter
allerdings wollte, dass ich ausgerechnet Latein als Fremdsprache
wähle, das frage ich mich schon manchmal. Nix gegen Bernges,
der Typ ist echt in Ordnung. Und sein Deutschunterricht
auch. Aber Latein?«
»Warum sitzt Bernges eigentlich im Rollstuhl? Wisst ihr
das?«, fragte ich die beiden.
Melanie schüttelte den Kopf.
»Irgendwer hat mal was von einem Unfall gesagt«, antwortete
Tom. »Mehr weiß ich auch nicht. Ich stelle es mir jedenfalls
ganz schön schwierig vor, als Rolli ausgerechnet an einem
Sportinternat Lehrer zu sein. Ich meine, es ist doch furchtbar,
wenn man seine Beine nicht mehr gebrauchen kann. Und bei
uns kriegt er das jeden Tag noch mal so richtig aufs Brot geschmiert,
dass nur die körperliche Leistung zählt.«
»Nur dass wir mit körperlicher Leistung in seinem Lateinunterricht
nicht besonders weit kommen«, warf ich ein. Plötzlich
war es mir unangenehm, so über Bernges zu sprechen, und ich
bereute es schon, überhaupt gefragt zu haben. Wäre Bernges
mein Vater, wäre es mir jedenfalls völlig egal, ob er im Rollstuhl
sitzt oder nicht.
»Ob er manchmal schwimmen geht?« Melanie sah uns an.
»Ich habe mal gelesen, dass Querschnittsgelähmte durchaus
noch schwimmen können, wenn die Lähmung nur die Beine
betrifft.«
»Im Wasser habe ich ihn noch nie gesehen«, erwiderte Tom.
»Allerdings treffe ich ihn manchmal im Kraftraum. Seinen
Oberkörper trainiert er offensichtlich regelmäßig. Aber ich krieg
jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn ich ihn dort sehe.«
»Warum das denn? Du kannst doch nichts dafür, dass er im
Rollstuhl sitzt.« Fragend schaute ich Tom an. Der zuckte mit
den Schultern.
»Nein, natürlich kann ich nichts dafür. Aber kennt ihr das
nicht auch? Ihr seht jemanden, dem es schlechter geht als euch,
und ihr fühlt euch mies? Einfach, weil ihr euch so undankbar
vorkommt für das, was ihr habt. Weil ihr alles, was ihr habt oder
was ihr könnt, immer für selbstverständlich haltet.«
Melanie nickte. »Ja, ich weiß, was du meinst. Mir geht es auch
manchmal so, wenn ich Leute kennenlerne, denen es schlechter
geht als mir.
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