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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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ich da hingekommen bin. Aus dem Augenwinkel
sehe ich, dass Bernges mit seinem Rollstuhl immer
auf meiner Höhe bleibt. Den Waffenlauf auf mich gerichtet.
Bernges war mit Melanie hier.
    Ich muss die Rollwende einleiten. Kopf senken. Kinn zur
Brust. Leichter Delfinbeinschlag. Aber wie ist Melanie gestorben?
Sie hatte keine Schussverletzung. In der Drehung Nase
zu den Knien, Ferse zum Hintern. Beine nicht durchstrecken.
Warum war Melanie tot? Nicht auf dem Bauch abstoßen. Auf
dem Rücken. Vor der Wende nicht nach vorne schauen. Würde
ich auch hier im Wasser sterben? Kein Blick nach vorne. Nach
dem Abstoßen mindestens einen Armzug nicht atmen. Und
noch mal. Nicht nach vorne schauen. Denk an die Gleitphase.
    Ich schwimme wieder. Das Eis hat mich freigegeben. Ich
breite meine Flügel aus und fliege. Bernges hat Melanie umgebracht.
Und er wird das Gleiche mit mir tun. Trotzdem bewegen
meine Arme sich im Wasser, als ob sie Flügel wären.
    Ich höre ein Lachen am Beckenrand. Ein zufriedenes Lachen.
Dann seine Stimme.
    »Komm her!«
    Jetzt abtauchen. Der Gedanke streift mich nur kurz. Ich
könnte tauchen. Bis ans andere Ende des Beckens und dann …
wie weit kann man mit so einem Ding schießen? Wie schnell
ist Bernges mit seinem Rollstuhl wirklich? Ich schwimme zum
Beckenrand. Ich weiß, dass ich keine Chance habe.
    Bernges' Rollstuhl steht neben der Leiter. »Hierher.«
    Das Wasser um mich herum wird erneut zu Eis. Es zieht
meine Arme nach unten, meine Beine bewegen sich nicht mehr
und dann sind da auch wieder die Eissplitter in meinem Hals. Es
kommt mir vor wie eine Ewigkeit, bis ich endlich an der Leiter
bin. Ich greife nach dem Geländer und will mich aus dem Wasser
ziehen.
    »Bleib, wo du bist.«
    Ich starre ihn irritiert an. Dann sehe ich die Schachtel auf seinem
Schoß.
Construnit
. In der rechten Hand hält er die Pistole.
In der linken eine kleine Ampulle aus Glas.
    Ampullen also, schießt es mir durch den Kopf.
    Er beugt sich vor und streckt sie mir entgegen. »Trink.«
    Ich bin wie gelähmt.
Construnit ist eine Hydroxy-Carbonsäure
,
schießt es mir durch den Kopf. Warum muss ich ausgerechnet
jetzt daran denken?
Die falsche Dosierung führte bereits zu zahlreichen
Todesfällen
. Aber was ist die richtige Dosierung?
    Noch immer hält Bernges mir die Ampulle hin. Ich könnte sie
ins Wasser werfen. Und dann? Nun zielt seine Pistole genau auf
meinen Kopf. Mein Blick fällt auf die riesigen Glasfronten hinter
Bernges. Erst jetzt merke ich, wie geschickt er sich positioniert
hat. Selbst wenn jemand über den Schulhof bis zur Halle kommen
würde, könnte er Bernges nur von hinten sehen.
    »Ich warte nicht gerne«, sagt Bernges, »ich möchte, dass du
das weißt.«
    Er legt die Ampulle auf seinen Schoß und rollt wenige Zentimeter
auf mich zu. Dann hält er mir wieder das Fläschchen hin.
Wortlos. Aber er braucht auch nichts mehr zu sagen. Ich greife
mit der linken Hand an das Geländer und ziehe mich ein Stück
aus dem Wasser. Mit der rechten nehme ich ihm das Fläschchen
ab. Meine Hand zittert so sehr, dass ich Angst habe, die Ampulle
fallen zu lassen. Eine Option ist das nicht. Das weiß ich. Ich sehe
die Schachtel auf seinem Schoß.
    Langsam gleite ich ins Wasser zurück, klammere mich mit
dem linken Arm weiter an das Geländer. Ich fühle, wie das
Zittern jetzt auch in meinem Gesicht angekommen ist. Meine
Zähne klappern und ich kann nichts dagegen tun. Ich denke an
Melanie. Wie lange hat sie ihm standgehalten? Hat sie das Zeug
sofort geschluckt? Musste er sie zwingen? Was waren ihre letzten
Gedanken?
    »Trink.«
    Ich sehe Bernges an. Warum? Warum ich? Was habe ich mit
all dem zu tun? In seinen Augen finde ich die Antwort.
Du bist
wie ich
, sagen sie. Die Waffe zuckt in seiner Hand. Er hebt sie
höher.
    Ich kann das nicht. Ich will das nicht. Ich will schreien. Will
weglaufen. Will auf die andere Seite. Mika.
Aber das Wasser war
viel zu tief
. Entsetzt starre ich auf meine Hand, die das Fläschchen
hält. Mein Arm bewegt sich auf mich zu. Das bin nicht ich.
Mein Arm bewegt sich ganz von allein. Mika. Meeresaugen. Es
fängt doch gerade erst an.
    NEIN!
    Jemand schreit. Ein Schuss fällt. Und ich falle mit. Versinke im
Wasser, das plötzlich kein Eis mehr ist, sondern heißes, kochendes,
brodelndes Wasser. Ich sinke immer tiefer.
    Atmen unter Wasser. Du musst atmen, denke ich. Ich habe
vollkommen die Orientierung verloren. Wasser, überall ist Wasser.
Dann endlich sehe ich die Linie am Beckenboden, die eine
Bahn

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