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Wie ein Flügelschlag

Wie ein Flügelschlag

Titel: Wie ein Flügelschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jutta Wilke
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mussten.«
    Wilhelm verstummte, und wieder wusste Leo, dass sein Freund das Gleiche dachte wie er. Wilhelm sprach leise weiter. »Das sind die Leute, die deine Eltern an die Gestapo verpfiffen haben, Leo. Die laufen jetzt durch die Straßen und pinseln solche Sätze an die Wände.«
    Wilhelm starrte auf die Mauer mit dem Satz. Er schien jetzt richtig wütend zu sein. »Siegen oder Sterben. Das ganze hirnlose
Pathos. Die ganze lächerliche Unzulänglichkeit und die Großmäuligkeit, mit der alles übertüncht wird. Diese ganzen Ignoranten, die früher Schnoddrigkeit mit Schneid verwechselt
haben und heute Halsstarrigkeit mit Entschlossenheit und jederzeit Arschkriecherei mit Disziplin. Siegen oder Sterben. Ist alles in diesem Satz enthalten, so wie er da steht.«
    Auf der Straße war inzwischen ein Trupp älterer Männer erschienen, die eine Kette bildeten und einen der Möbelwagen mit Schutt zu beladen begannen. Die Straße hallte wider vom hohlen Poltern der Brocken auf dem Holzboden der Ladefläche.
Es dröhnte, als zwei Mann einen Heizkörper hineinwarfen.
Eine Panzersperre auf Rädern, die keinen Panzer länger als eine Minute aufhalten würde.
    Sie schwiegen eine Weile. Leo dachte an seine Eltern und hatte einen Kloß im Hals.
    Wilhelm blickte ihn an. Plötzlich schien ihm etwas einzufallen.
    »Es stehen aber auch noch andere Sachen an der Wand«, sagte er. »Ich hab's gesehen, gestern in der Kantstraße. Sie waren gerade dabei, es in aller Hast zu übertünchen.«
    »Was stand da?«
    »Nein.«
    »Wie, nein?«
    »Nein. Nur das eine Wort. Und weißt du, was das Grandiose
dabei ist?«
    Leo ahnte, worauf Wilhelm hinauswollte, aber er ließ ihn weiterreden. Wilhelm konnte die Dinge besser auf den Punkt bringen.
    »Dieses Nein ist für sie viel schlimmer als ›Nieder mit Hitler!‹
oder ›Die Kommune lebt!‹. Das sind Parolen. Dieses Nein ist eine Haltung.«
    Leo verstand. »Und eine Einladung zum Selberdenken«, sagte er.
    Wilhelm nickte. »Falls dazu noch jemand fähig ist hierzulande.
«
    »Vielleicht lernen sie's wieder.«
    »Ich glaube eher, sie konnten es noch nie.«
    »Dann wird es jetzt Zeit dafür.«
    Wilhelm blickte ihn mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit
und Rührung an. »Unglaublich, dass so etwas ausgerechnet
von dir kommt.« Er machte eine Pause und schluckte. Unten dröhnten die Trümmer im Sekundentakt auf der Ladefläche
des Möbelwagens.
    Wilhelm holte Luft. »Wenn du das kannst, dann muss ich es wohl auch glauben.«
    »Werd nicht pathetisch.«
    »Im Ernst. Ich würde dich ja sonst beleidigen.«
    Leo wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment jaulte die erste Sirene los. Eine zweite fiel ein, dann eine dritte.
    Wilhelm seufzte auf. »Unsere Befreier kommen. Ab in den Keller.«
    Ohne übermäßige Eile packten sie ein paar Sachen in einen bereitstehenden Koffer. Der ständige Wechsel zwischen Luftschutzkeller
und Wohnung – wenn man noch eine hatte – war den Berlinern vertraut wie ein religiöses Ritual, das man als Kind gelernt hat und von dem man als Erwachsener nicht lassen
kann. Die Sirenen waren die Glocken, der Keller war die Kirche. Wenn es losging, wurde gebetet, und wenn es vorbei war, ging man zurück.
    Dennoch war es bei Wilhelm etwas anders. Im Keller war fast nie jemand. Das Haus war schwer zerstört, aber während Bomben und Brandsätze sich üblicherweise von oben durch die Stockwerke fraßen, waren hier das Dach und Wilhelms Wohnung völlig unversehrt, während der untere Teil des Hauses ausgebrannt war, nachdem ein paar Bomben das Dach über der Nachbarwohnung durchschlagen hatten und weiter unten im Haus explodiert waren. Das anschließende Feuer hatte die ersten vier Stockwerke verwüstet, aber dann hatte die Feuerwehr die Brände unter Kontrolle bekommen und Wilhelms Wohnung war, abgesehen von den zerborstenen Scheiben, den versengten Tapeten und den vom Löschwasser ruinierten Teppichen, wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben. Seitdem lebte Wilhelm praktisch allein in dem großen
Haus und kurz darauf hatte er Leo zu sich geholt.
    Es war Leo ein Rätsel, warum Wilhelm die riesige Etage bewohnen konnte, ohne dass man ihm eine oder zwei ausgebombte
Familien einquartierte. Mindestens genauso merkwürdig
war, dass man Wilhelm noch nicht eingezogen hatte. Überhaupt war vieles an Wilhelm rätselhaft. Und so gern er auch schwadronierte: Über diese Dinge sprach Wilhelm nie. Wenn Leo ihn fragte, lächelte er nur das dünne, amüsierte Lächeln, mit dem ein

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