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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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wechseln, den Blick abwenden. Maze doch nicht. Maze preschte voran, fragte weiter.
    Also gut, dachte sich Mary Elizabeth. Also gut.
    Manchmal hatte ihre Mutter Anfälle, und sie mussten sie hinauf in ihr Zimmer bringen und ins Bett legen. Dann tauchte sie manchmal tagelang nicht wieder auf.
    Anfälle? Was für Anfälle?
    Selbstgespräche. Beinahe, als würde sie singen. Aber in einer Sprache, die niemand verstand. Ah fort. Rorororo. Dasss, assss, issss . So seltsames Zeug. Unsinn. Normalerweise eher leise, aber natürlich gafften die Leute trotzdem.
    Was für ein Singen? Wie ein Kirchenlied? Hübsch? Oder manchmal traurig, so wie du, wenn du Klavier spielst? Vielleicht wollte sie mitsingen.
    Nein, nein – so nicht. Wie sollte man diesen entsetzlichen Klang beschreiben? Es hätte beinahe Musik sein können, manchmal, eine Art von Singen, vielleicht wie Bluesgesang. Tief und etwas grollend, beinahe unheimlich. In einer Molltonart, falls es überhaupt eine Molltonart war. Einfach nur ein paar seltsame Laute, und die wiederholte sie immer und immer wieder.
    »Als Kind war ich mal bei einem Gebetsgottesdienst in Torchlight«, sagte Maze, »drüben in den Bergen. Und wenn der Heilige Geist über die Leute kam, da haben sie genauso geklungen. Ein bisschen wie Tierlaute, ein Knurren und Murmeln, aber ab und zu klang es auch wie Worte, nur eben Worte in einer Sprache, die ich nicht kannte. Dann sind sie auf den Boden gefallen und haben rumgezuckt, und hinterher waren sie plötzlich wieder normal, haben Lieder gesungen und sich wie jeder andere benommen.«
    »Wahrscheinlich haben sie auch Schlangen beschworen.«
    »M. E., ich meine ja nur …«
    »Ich weiß, was du meinst, Maze, aber mein Daddy glaubt nicht an diesen ganzen Unsinn vom Heiligen Geist und in Zungen reden. Das gehört nicht zu seiner Kirche, und es hat auch in der Familie meiner Mama nicht dazugehört, und das ist es nicht, was sie macht, wenn das passiert.«
    »Wer hat denn was von der Kirche deines Daddys gesagt? Ich dachte, wir sprechen von deiner Mama, dass sie nicht richtig im Kopf ist, deinen Worten nach! Hast du das nicht gerade …«
    »Sie wollte sich schon mal umbringen. Es kann gut sein, dass sie es gerade noch mal versucht hat. Mein Daddy sagt, sie liegt im Krankenhaus, aber warum, hat er nicht geschrieben. Aber ich kann es mir denken. Er sagt, ich darf sie erst in den Weihnachtsferien besuchen, wenn sie wieder zu Hause ist. Er sagt, es sind ihre ›Frauenbeschwerden‹. Aber das hat er mir schon immer erzählt.«
    Jetzt schluchzte sie – große, dicke Tränen, die Nase lief in Strömen. Maze streckte die Hand nach ihr aus, aber sie wich zurück und stand auf.
    Mein Gott, dachte sie. Nicht ganz richtig im Kopf? Wessen Worte waren das? Aber wie sonst sollte sie es ausdrücken?
    Maze redete schon wieder, sie hörte nie auf zu reden, aber nun kam es als Flüstern heraus. »Glaubst du, sie wollte, dass die Anfälle weggehen, als sie versucht hat, sich umzubringen?«
    Plötzlich fühlte Mary Elizabeth sich erschöpft, sie hatte Angst, sie würde den Weg zurück nicht schaffen. Sie ließ den Blick über die Gebäude schweifen, die sie unter sich sehen konnte, die Spätnachmittagssonne schien auf die Dächer und brachte sie zum Glänzen. »Ich weiß es nicht, Maze.« Sie wischte sich die feuchten Augen und das Gesicht mit dem Handrücken ab. »Ich bin müde. Gehen wir lieber zurück.«
    »Ist gut, M. E.« Doch Maze rührte sich nicht vom Fleck.
    Also lief Mary Elizabeth allein los, und bevor sie noch weit gekommen war, hörte sie Maze hinter sich. Sie spürte eine Hand auf ihrer Schulter, und als sie sich umdrehte, stand Maze mit einem Taschentuch vor ihr. Zärtlich wischte sie Mary Elizabeth die Augen und die Wangen ab, dann strich sie ihr die Haare aus dem Gesicht und hinter die Ohren.
    »Ich kann mir vorstellen, dass mit deiner Mama mehr los ist als ›Frauenbeschwerden‹, was auch immer das sein mag«, sagte sie. »Wahrscheinlich mehr, als du je erfahren wirst. Ich weiß nicht, warum sie glauben, sie könnten uns nicht erzählen, wer sie sind, aber ganz offensichtlich müssen sie das wohl glauben.« Sie drückte Mary Elizabeth das Taschentuch in die Hand.
    Mary Elizabeth nickte, ohne sie richtig zu hören. Zurück auf dem Campus gingen sie ohne Umwege zum Abendessen in den Speisesaal, und Mary Elizabeth war froh, hinterher ihre Arbeitsstunden abzuleisten, Berge von Geschirr in einem Nebel der Erschöpfung spülen zu können. Sie war froh, Maze und

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