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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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ihrer Abreise eingeschärft, immer auf der Hut zu sein. Er hätte nichts zu sagen brauchen, zu dem Zeitpunkt war sie darin längst eine Expertin. Wohne, wo sie wohnen, iss, wo sie essen, lerne, wo sie lernen – aber lass den Blick unten. Mach alles gut, aber nicht so gut, dass sie dich für hochnäsig halten. Zeig ihnen, dass du keine Bedrohung bist.
    Tante Paulie hätte über diesen Ratschlag gelacht und dann auf den Boden gespuckt. Aber genau deshalb versuchte ihr Daddy sein Möglichstes, den Einfluss ihrer Tante einzuschränken. Das hatte Mary Elizabeth schon früh herausgefunden. Einmal die Woche zum Klavierunterricht, als sie noch kleiner war, später ab und zu über Nacht, um in Lexington ein Konzert zu besuchen. Aber mit ausdrücklichen Anweisungen: Kein Jazz. Kein Kontakt mit den Männern und Frauen, die normalerweise samstagabends in Tante Paulies Haus Musik machten.
    Und ein unvergesslicher Ausflug nach Cincinnati, um einen jungen Pianisten zu sehen, von dem Tante Paulie gehört hatte und der mit dem Sinfonieorchester im Theater spielte. Damals war Mary Elizabeth zwölf. »Das will ich machen«, sagte sie zu Tante Paulie, als das Licht am Ende wieder anging. Es war das einzige Mal, dass Tante Paulie, die Tränen in den Augen hatte, ihr nicht antworten konnte. Sie wandte nur den Blick ab.
    Als Mary Elizabeth achtzehn und bereit fürs College war, wusste sie, wie es lief. Komisch, dass sie jetzt, in Berea, nur dann ihr wahres Gesicht zeigen konnte, wenn sie entweder schlief oder arbeitete. Dort, in der Küche, mit anderen Studenten wie ihr, die ganz genauso müde waren wie sie. Man sah es in ihren Gesichtern, während sie schabten und schrubbten, spülten und trockneten.
    Und manchmal auch bei Maze. Das wurde Mary Elizabeth an einem sonnigen, kalten Tag Anfang November bewusst, als sie den Devil’s Slide hinaufstiegen. Sie hatten Rast gemacht, um Wasser zu trinken und sich etwas zu unterhalten. Normalerweise kam das Gespräch früher oder später immer auf Mazes Hauptthema: Wer sind unsere Mamas, und werden wir später einmal wie sie?
    Allgemein übernahm Maze den Großteil des Redens. Vista misstraue den meisten Männern, sagte sie. Sie selbst wisse noch nicht genug, um sich zu entscheiden, ob ihnen zu trauen war. Vista schäme sich, aus den Bergen des östlichen Kentucky zu stammen. Maze würde auf der Stelle dorthin ziehen, in die heruntergekommene alte Hütte ihrer Grandma Marthie, wenn sie könnte. Und Schwester Georgia und den großen Webstuhl in der Schwesternwerkstatt nähme sie mit.
    Vista sei Baptistin, wenn auch keine sonderlich fromme. Maze glaube nicht unbedingt an Gott, obwohl sie eine leise Ahnung von Geistern habe, und sie habe Schwester Georgia und den anderen alten Shakern geglaubt, wenn sie behaupteten, sie sähen sie. Ja, sagte Maze, manchmal habe sie selbst mit dem Gedanken gespielt, Shaker zu werden, auch wenn der einzig andere verbliebene im Staate Kentucky, beziehungsweise überhaupt westlich des Appalachenwegs, Schwester Georgia sei.
    An diesem Novembersamstag jedoch war Maze nachdenklich. Mary Elizabeth war noch stiller. Das Üben war an diesem Vormittag nicht gut gelaufen. Am Tag zuvor hatte sie einen Brief von ihrem Vater erhalten. Ihre Mutter sei wieder im Krankenhaus, schrieb er.
    Maze trank einen großen Schluck Wasser und betrachtete Mary Elizabeth von der Seite. Sie saßen auf einem breiten Stein. Die Bäume hatten schon viele Blätter verloren, und die Luft war kristallklar. Unterhalb konnten sie Teile der Stadt und des Collegegeländes durch den normalerweise dichten Laubvorhang sehen, einen Kirchturm hier und dort, Rauch aus einer Handvoll Schornsteine.
    »Weißt du, M. E.«, sagte Maze (sie hatte sich angewöhnt, ihre Mitbewohnerin so zu nennen, da alles andere, das kürzere Mary oder Mary Liz zum Beispiel, nicht zu ihr passte, fand sie), »ich glaube, du hast Recht. Deine Augen wirken doch manchmal so traurig wie die von deiner Mama. Vielleicht sogar noch trauriger. Warum erzählst du mir eigentlich nie irgendwas über sie und deinen Daddy?« Und Mary Elizabeth fing an zu weinen.
    Dann kam sie ins Reden, erzählte Maze unerklärlicherweise einige Dinge, zu viele Dinge. Ihre Mutter sei krank oder so, sagte sie, nicht ganz richtig im Kopf.
    »Nicht ganz richtig im Kopf?«, fragte Maze, und die Worte klangen schrecklich, als sie so zu Mary Elizabeth zurückgeworfen wurden. »Was heißt das?«
    Natürlich würde Maze niemals das Feinfühlige, Taktvolle tun. Das Thema

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