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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Webhütte. Dort wurden Tischläufer und Decken und Überwürfe hergestellt, die in den Geschäften der Stadt verkauft wurden. Streng genommen sollten die für die Webgruppe eingeteilten Studenten Anfänger sein und eine neue Fertigkeit erlernen, doch als ihr Gruppenleiter merkte, was für eine geschickte und tüchtige Weberin Maze bereits war – und wie schnell seine Gruppe demzufolge ihr Pensum erfüllen konnte –, tat er so, als bemerkte er nicht, dass es für sie nur noch wenig zu lernen gab.
    Schwester Georgia hatte ihr das Weben beigebracht, die Frau, die von Mazes Mutter gepflegt wurde, und zwar auf einem großen, alten Webstuhl, der den frühen Shakern gehört hatte. Georgia wiederum hatte es in Berea gelernt, als sie sechzig Jahre vorher als Dozentin dort gearbeitet hatte. Obwohl sie sich mit Mazes Mutter ununterbrochen zankte, war Georgia bei Maze unendlich geduldig und liebevoll, eine perfekte Lehrerin. Mit zwölf beherrschte Maze den großen Webstuhl, mit vierzehn war sie eine Meisterin daran. Vista verkaufte die Tischdecken, die sie und Georgia herstellten, an die Eigentümer des Beau Rive Hotels, wo sie als Wäscherin arbeitete.
    Maze wurde des Webens nie überdrüssig, und das Wissen, dass sie es in Berea weiterhin tun konnte, war ein Grund, warum sie Vistas Drängen nachgegeben und eingewilligt hatte, aufs College zu gehen. Selbst die Monotonie, die rhythmische Eintönigkeit – vielmehr genau das – empfand sie als angenehm. Sie war bekannt dafür, sich abends noch einmal in die Webhütte zu stehlen oder manchmal sogar ein oder zwei Kurse zu schwänzen, um eine kompliziert gemusterte Schussköper-Decke oder eines ihrer Lieblingsgewebe, das hübsche indigofarbene Bronson-Muster, fertigzustellen.
    »Du solltest lieber den Mund halten, wenn du die Arbeit behalten willst, weißt du«, warnte Mary Elizabeth sie. »Und du solltest besser ein bisschen langsamer werden und ein paar Fehler machen.« Sie hatte Maze schon häufig am Webstuhl beobachtet. Oft war sie um kurz vor elf, wenn alle in ihren Wohnheim-Zimmern zu sein hatten, in die Webhütte geeilt, um Maze dort herauszuzerren.
    »Wird dir das denn nie langweilig?«, konnte sich Mary Elizabeth eines Abends nicht verkneifen. Sie sah Maze zu, wie sie mit den Füßen die Garnreihen hob und senkte, dann das Schiffchen von einer Seite zur anderen durchschob, immer und immer wieder, und dabei, das wusste Mary Elizabeth, unablässig zählte – selbst beim Reden. Mary Elizabeth bekam glasige Augen beim Zuschauen. Sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte sich einfach nicht merken, was Kette und was Schuss war, konnte nie verstehen, wie dieser ganze Apparat funktionierte, wie das Muster, das neben Maze lag, auf das riesige Gestell aus Holz und Drähten, Stangen und Schnüren übertragen wurde und wie diese ganzen Fäden am Ende zu einem großen gemusterten Stoff zusammenkamen, weich und hübsch, dieses Mal in Altrosa und Grau.
    »Langweilig?«, fragte Maze, während sie, wie auch immer, im Kopf weiterzählte. »Aber nein. Langweilst du dich, wenn du am Klavier sitzt? Versetzt du dich nicht beim Spielen im Geiste woandershin? Vergisst du nicht die ganzen Hämmerchen und Drähte in dem Kasten und spürst einfach nur die Musik irgendwie in deinem Innersten? Hast du mir das nicht neulich Abend erzählt?«
    Sie hielt nun inne, und sie sah Mary Elizabeth an. Ihre Miene war schwer zu deuten.
    »Ich meinte das nicht als Beleidigung, Maze«, sagte Mary Elizabeth besorgt.
    »Ich bin nicht beleidigt. Ich sage nur, dass ich beim Weben im Kopf ganz woanders sein kann.« Sie verknotete einen Faden, setzte das Schiffchen an und betätigte wieder die Pedale. »Zu Hause in Pleasant Hill.« Sie sprach im Rhythmus ihrer tretenden Füße. »Oben auf dem Devil’s Slide. An Orten, wo ich noch gar nicht gewesen bin.« Ihre Füße machten keine Pause, ihre Finger kontrollierten die Reihen, selbst während sie sprach.
    Mary Elizabeth war immer noch ratlos. »Aber wieso kommst du nicht durcheinander?«
    »Tja.« Tritt, Tritt. »Wie kannst du« – Tritt – »die Tasten anschlagen« – Tritt – »und dabei mit mir reden, wie ich es schon erlebt habe?« Tritt, Tritt.
    Mary Elizabeth lachte und schüttelte den Kopf. »Das geht nur bei den alten Kirchenliedern, das weißt du. Die kann ich im Schlaf spielen.«
    »Bei mir ist es eben auch manchmal so, als würde ich das hier im Schlaf machen.« Hin und wieder unterbrach Maze, um einen weiteren Faden zu verknoten. Sie lächelte Mary

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