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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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lila Batist und hatte früher einer von Vistas Arbeitgeberinnen gehört, Nora Taylor, die groß und dünn und breitschultrig wie Maze gewesen war. Es hatte ein eng anliegendes Oberteil und einen hübschen runden Ausschnitt, und Maze liebte, wie die dünnen, seidigen Schichten des Rocks über ihre Beine strichen, wenn sie tanzte. Sie hatte Glück – vielleicht war es sogar ein bisschen seltsam, dachte sie –, dass es für November ein so warmer Abend war.
    An jenem Abend, als sie mit Harris tanzte, war die sanfte Berührung dieses Stoffs und dann sein Bein zwischen ihren, wenn er sie drehte und mit der Handfläche und den gewölbten Fingern nach hinten drückte, beinahe zu viel. Bei den Walzern schrie sie manchmal fast laut auf vor lauter Genuss. Er schien zu wissen, wenn sie so empfand, und zog sie genau dann näher an sich. Sie spürte seine Lippen auf ihrem Haar, das ihr offen in wilden Locken über den Rücken fiel.
    Sie gaben ein schönes Paar ab, das wusste sie, zwei geschmeidige Tänzer, selbst bei den schnellen Reels. Maze fühlte die anerkennenden Blicke der anderen Tänzer auf sich, die ihre gemeinsamen Bewegungen beobachteten. Harris trug eine schwarze Hose und ein gestärktes weißes Hemd, das am Hals offen stand, und er ließ Maze nicht aus den Augen. Niemand wagte, dazwischenzutreten und sie um einen Tanz zu bitten, und keine der Frauen, mit denen er vor ihr getanzt hatte, hielt Ausschau nach ihm. Wie es aussah, dachte Maze irgendwann während des letzten langsamen Walzers, beinahe berstend vor Glück, war es absolut in Ordnung gewesen, allein in Berea zum Tanzabend zu gehen.
    Mary Elizabeth bemerkte nicht, wie spät es war, als Maze nach Hause kam. Ihr Konzert war für die kommende Woche angesetzt, für Mittwoch, den letzten Tag des Semesters. Sie hatte bis zehn Uhr abends geübt und war dann in ihr leeres Zimmer zurückgekehrt. Wahrscheinlich war Maze vom Tanz aus noch in die Webhütte gegangen, dachte sie, als sie noch angezogen auf ihr Bett sank.
    Am nächsten Morgen lag Maze tief und fest schlafend in ihrem Bett und schnarchte leise, das Batistkleid hing unordentlich über einem Stuhl. Sie musste sie zugedeckt und das Licht ausgeschaltet haben, stellte Mary Elizabeth fest, als sie richtig wach war. Im trüben Morgenlicht zog sie sich für die Kirche an und konnte sich nicht entscheiden, ob sie ihre Zimmergenossin aufwecken sollte. Inzwischen hatte Maze schon viele Gottesdienste und Andachten verpasst, und das blieb in Berea nicht unbemerkt. Ihre Noten waren auch nicht gerade überragend, da sie so viel Unterricht geschwänzt und so wenig gelernt hatte.
    Andererseits, dachte Mary Elizabeth, sackten ihre eigenen Noten ebenfalls ab, wegen all der Zeit, die sie am Klavier verbrachte. Warum sie das tat, konnte sie nicht so genau sagen. Mr Roth drängte sie, gewiss, aber da war noch etwas anderes, etwas, das sie nicht in Worte fassen konnte. Ein Sehnen, eine Ahnung von Möglichkeiten, an die sie früher nicht gedacht hatte. Wenn sie jetzt am Ende der Chopin-Etüde anlangte (die sie inzwischen virtuoser spielte, als sie noch im September in ihren kühnsten Träumen für möglich gehalten hätte) und die Augen schloss, sah sie die Finger des Pianisten vor sich, den sie als Kind im Theater in Cincinnati erlebt hatte. Sie stellte sich die Finger von Vladimir Horowitz vor – wie die Beine eines Rennpferds. So stark, so schnell. Doch wenn sie die Augen öffnete und ihre eigenen langen, schlanken Finger betrachtete, sah sie etwas anderes. Was genau? Wer oder was wurde aus ihr? Wie konnte sie sich selbst so sehen?
    In dieser Zeit schmerzten und kribbelten ihre Finger abwechselnd, den ganzen Tag lang. Mr Roth hatte schon längst beantragt, ihr eine andere Arbeit zuzuteilen, als er bemerkte, wie all das Spülen sich auf ihre Hände auswirkte. Nun katalogisierte sie im Hinterzimmer der Bibliothek Bücher. Sie war immer noch versteckt, konnte sich aber weniger gut entspannen bei all den Bibliothekaren, die um sie herumschwirrten und sie beobachteten.
    Das Konzert würde sie auf dem Flügel im Alumnisaal spielen, demselben Instrument, das sie und Maze an ihrem zweiten Abend auf dem Campus zufällig entdeckt hatten und das in einem Raum voller Porträts ehemaliger Rektoren und Verwaltungsratsvorsitzender an den Wänden stand. (Wie hatten ihnen die entgehen können? Wie hatten sie sich damals so ungeniert dort niederlassen können?) Wenn sie an das bevorstehende Konzert dachte, spürte sie eine ganze Horde von

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