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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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sie zu beschwichtigen. Sie versuchte, nicht zu bemerken, wie ihre Mutter die Hand wegzog, den Kopf zur Seite wandte und aus dem Fenster blickte. Esss. Isss. Ah fort, oh .
    Mary Elizabeth schloss die Augen. Sie schlief schon, bevor sie den Campus verlassen hatten. Sie konnte sich nicht erinnern, ins Haus gelaufen und sich ins Bett gelegt zu haben, als sie eineinhalb Tage später aufwachte, am Heiligabend.

Sarah
    1935
    A ls Kind liebte Mary Elizabeths Mutter Sarah Henry den Schatten des Papayabaums und einen kühlen Schluck Wasser aus dem fließenden Bach. Sie war schmal und still, und andere Kinder straßauf, straßab hielten sie für abweisend, das wusste sie. Bis sie ihren älteren Bruder Robert verlor und alle sagten, es sei kein Wunder, dass sie seltsam wurde. Aber Sarah war immer seltsam gewesen, genau wie er, und sie wusste, dass sie ihm eines Tages nachfolgen müsste.
    Es hieß, Tante Paulie habe die Musik gebracht, von den Inseln hoch und bis nach Paris, dann zurück in ihre kleine Landstraße in Kentucky, in die Baracken, in denen sie auf die Welt gekommen war. Ihr Liebhaber aus der Karibik mit den vernarbten Händen von einer abgerutschten Sense, hatte sie, nachdem sie ihm nach dem Krieg in Louisville begegnet war, in einem kalten, schmutzigen Zimmer in Paris sitzen lassen, mittellos und schwanger. Freunde halfen ihr, als blinder Passagier auf ein Schiff nach New Orleans zu gelangen, und sie musste sich auf dieser langen Überfahrt genug erbrochen haben, um alles, was an Baby in ihr war, auszubrechen. In jenem Frühling, als Sarah acht war, fegte Tante Paulie in der Ansammlung von Farmpächterhütten außerhalb von Stanford, Kentucky, ein und aus wie ein Hauch französisches Parfüm. Die Fahrkarte zurück nach Paris bezahlte sie mit einer Rolle des schwer erarbeiteten Geldes von Sarahs Daddy. Sarahs Mama sorgte dafür, dass niemand das je vergaß. Und zurück ließ sie die Musik, den Anfang des ganzen Ärgers, sagten die Leute.
    Aber Robert hatte seine Gitarre schon ein Jahr lang besessen, bevor Tante Paulie vor ihrer Tür stand. Seit er zwölf war, hatte Sarah ihn das Instrument abends aus dem Haus tragen sehen. Ihr Vater hatte ihm geholfen, die Saiten aufzuziehen. Niemand musste ihnen die Musik bringen. Sie war bereits da.
    Doch schon mit acht, neun, zehn war sie wie ihre Mutter: beunruhigt davon. Und hatte ihre Mutter nicht Recht gehabt? Das würde später einmal die Ansicht von Sarahs Ehemann sein. Stell keine Fragen. Spiel diese Musik nicht. Geh dieser Art von Ärger aus dem Weg, um jeden Preis.
    Auch die glatten Muskeln, die sich an Roberts Armen bildeten, hatten ihr Angst gemacht. Wie eng sich die Ärmel seines Hemds unterhalb der Ellbogen strafften, in jenem Sommer, nachdem Tante Paulie fortgegangen war und Robert begonnen hatte, abends mit seiner Gitarre loszuziehen.
    »Ihr immer mit eurer Musik«, sagte ihre Mutter dann, seufzte und verdrehte die Augen, und in ihrer Stimme mochte ein Lachen liegen, aber in ihren Augen nicht. Sarah sah das.
    »Ach, lass ihn doch, Frau«, erwiderte ihr Vater darauf. Er sah ihre Augen ebenfalls.
    Ihre Mutter schnalzte zwar missbilligend mit der Zunge, nahm dann aber weiter die Wäsche von der Leine oder spülte einen Eimer Kermesbeeren aus. Und so trat Robert, beinahe ohne ein Geräusch zu machen, von der Veranda hinunter auf die Straße, ohne sich einmal umzusehen, die Gitarre in einer Hand, während um ihn herum die Sonne unterging.
    Er war nicht groß, aber für Sarah, die auf der Veranda lag und ihm eines Sommerabends aus zusammengekniffenen Augen nachblickte, wurde er so groß wie die sinkende Sonne. Den ganzen Tag hatte er Heu geschnitten und gebündelt, seine Augen waren rot, die Arme übersät von Kratzern und Beulen. Er wusch sich und zog sich um und schmierte sich etwas auf die Haare, das sie glänzen ließ wie die geschrubbte Haut seines Gesichts. Er lächelte Sarah an und bückte sich, um an ihrem Haar zu ziehen. Als er sich aufrichtete und zum Gehen wandte, war sein Rücken plötzlich so unerwartet breit, dass sie nach Luft schnappte. In ihrem Inneren regte sich etwas, und sie spürte die Angst ihrer Mama. Sie war zehn, und er war sechzehn.
    Sie erinnerte sich daran, weil sie in jener Nacht auf der Veranda schlief und auf ihn wartete. Er kam erst im Morgengrauen zurück.
    Spielen hörte sie ihn nie. Wie konnte das sein? Er spielte nie zu Hause, dafür sorgte ihre Mutter.
    »Hier bei uns kannst du spielen, wenn du Lieder über Jesus lernst.« Dann machte

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