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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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sie schrubbten.
    »Das hilft dir vielleicht auf die Sprünge, damit du begreifst, warum du auf dem College bleiben und deinen Abschluss schaffen musst«, sagte Vista zu Maze. »Dich auf Harris Whitman oder irgendeinen anderen Mann zu verlassen, bringt nichts. Sieh besser zu, dass du als Lehrerin arbeiten kannst. Geh einfach zum Unterricht, mach deine Hausaufgaben und hol dir den verdammten Abschluss.«
    Mary Elizabeth beobachtete Mazes Mama mit Argwohn. Sie fragte sich, was sie tatsächlich dachte. Über sie. Galt diese Predigt wirklich nur Maze oder war sie irgendwie auch an sie gerichtet? Sie brauchte sie nicht zu hören – die Geschichte kannte sie, und sie glaubte sie auch. Ganz bestimmt zählte sie nicht auf einen Mann. Und ja, sie hatte vor, Lehrerin zu werden, wie ihr Daddy es immer für sie geplant hatte. »Musik ist schön und gut«, sagte er ihr. »Aber mach erst die Ausbildung, wenn du nicht den Rest deines Lebens Klavier spielen und anderer Leute Häuser putzen willst.«
    Ein paar Abende später erwischte Vista Maze und Mary Elizabeth, als sie mit ihrem geschmuggelten Bier im Mondschein auf einer Decke saßen, die sie hinter dem alten Shaker Inn ausgebreitet hatten. Das war’s, dachte Mary Elizabeth, jetzt jagt sie die Farbige zum Teufel. Doch Vista nahm sich ein Bier und zündete sich eine Zigarette an, dann hielt sie Mary Elizabeth die Schachtel hin.
    Erschrocken schüttelte Mary Elizabeth den Kopf. »Nein, danke«, sagte sie. »Ma’am«, ergänzte sie dann noch. Maze lachte, und Vista lächelte ihrer Tochter zu und wandte sich an Mary Elizabeth. »Du brauchst mich nicht so zu nennen«, sagte sie. »Wir sind hier nicht so förmlich.«
    »Ich hab gehört, du spielst Klavier«, fuhr sie daraufhin fort und zog einen Schlüssel aus der Tasche. »Ich hab mir Georgias Schlüssel für das Gemeindehaus geholt, bevor ich euch beide suchen gegangen bin. Ich dachte, du könntest vielleicht ein bisschen für uns spielen.«
    Mit besorgter Miene setzte sich Maze rasch auf der Decke auf. »Mama, Mary Elizabeth muss sich ein bisschen vom Klavier erholen.«
    »Ist schon gut«, sagte Mary Elizabeth zu Maze und dann zu Vista: »Ich kann ein paar Kirchenlieder für euch spielen, wenn ihr mögt. Mehr möchte ich allerdings lieber nicht, nur ein paar von den alten Kirchenliedern.«
    »Genau das würde ich gern hören.« Vista stand auf und zog die beiden Jüngeren hoch.
    Es war ein staubiges altes Klavier, so verstimmt, dass Mary Elizabeth einfach zu vergessen versuchte, dass sie spielte. Bei Kirchenliedern konnte sie das – den Ton in ihrem Kopf abschalten und ihre Finger Amazing Grace oder In the Sweet By and By spielen lassen. Doch als Maze sie zaghaft nach den Stücken fragte, die sie an ihrem zweiten Abend in Berea gespielt hatte – »diesen Debussy, das mit den Kindern oder wie das hieß« –, schüttelte Mary Elizabeth den Kopf. Es sei nur, weil das Instrument so schlimm verstimmt war, redete sie sich ein und ignorierte den stechenden Schmerz zwischen ihren Schultern.
    »Du schläfst nicht gut, oder, M. E.?«, fragte Maze am nächsten Tag. Seit Mary Elizabeth in Pleasant Hill war, wachte Maze jede Nacht vom Zähneknirschen ihrer Freundin im Nebenzimmer auf, einem Geräusch, das so gequält und laut war, dass Maze es durch die massiv gebaute Wand hörte. An jenem Morgen bat sie Schwester Georgia um einen Tee, den sie in den vergangenen Jahren für Vista zubereitet hatte, die ebenfalls schlecht schlief.
    Schwester Georgia zog ein verstaubtes altes Buch aus einer Truhe hinter ihrem Webstuhl. »Das Hauptbuch der Schwestern«, sagte sie lächelnd. »Schwester Mary hat es an mich weitergegeben, bevor sie starb.«
    Die Frau war ein absolutes Rätsel. Manchmal, wie an diesem Morgen, konnte sie lieb und großmütterlich wirken wie die alten Frauen, für die Mary Elizabeth zu Hause in Richmond geputzt hatte, nur hatten die keine Schnürstiefel und auch nicht so ein sonderbares Häubchen auf dem Kopf. Dann wieder hatte sie eine Wildheit an sich, ein Feuer in den Augen, das für Mary Elizabeth wie Zorn aussah, obwohl Maze nicht glaubte, dass Schwester Georgia noch zornig war. Das sei sie früher einmal gewesen, sagte Maze. Aber jetzt nicht.
    An jenem Morgen war sie durch und durch sanft und liebenswürdig und forderte die jungen Frauen auf, sich neben sie an den Tisch zu setzen, während sie die Seiten des Buchs der Schwestern aus dem vorigen Jahrhundert umblätterte. Darin waren die wöchentlichen Pflichten aufgelistet, es

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