Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
gab Notizen, was wo gepflanzt wurde, dazwischen Rezepte und Anleitungen für die Herstellung von Kräuterarzneien, alles in verblassender Tinte und in einer kaum lesbaren Handschrift.
Doch Schwester Georgia konnte alles problemlos entziffern. »Quittenmarmelade«, las sie vor. »Stechwindentee. Immer ein paar Tropfen Rosenwasser in Apfelkuchen und auch in ein Kopfbad bei Kopfschmerzen. Ein Umschlag aus Ringelblume und Petersilie bei Nesselsucht, Wunden oder Lähmungen. Getrocknete Thymianspitzen gegen Krupp.« Abrupt brach sie ab und blätterte schnell um, nachdem sie lediglich die Worte »Für Schwestern, die gefehlt haben« gelesen hatte.
»Moment mal«, rief Maze und schlug die Seite wieder zurück. »Was war das?«
Sie zog das Buch näher zu sich heran und starrte angestrengt auf die Seite. »Schwestern, die gefehlt haben, trinken diesen Tee vor dem Schlafengehen.« Einen Moment lang blickte sie fragend zu Schwester Georgia auf, dann senkte sie den Kopf wieder über das Buch.
»Lebermooswurzel«, las sie langsam, einen Buchstaben nach dem anderen. »Kochendes Wasser. Rizinusöl. Toll … Tollkirsche. Tollkirsche! Das ist doch giftig, oder, Georgia? Hast du mir nicht beigebracht, dass Tollkirsche giftig ist?«
Langsam dämmerte ihnen etwas, sowohl Maze als auch Mary Elizabeth. Sie sahen einander an, und ihre Augen weiteten sich. Was sonst konnte es bei einer keusch lebenden Schwester bedeuten, »gefehlt« zu haben?
Maze lehnte sich zurück und blickte Schwester Georgia an. »Du meinst, die haben diesen Tee getrunken, um sich umzubringen ?«
Schwester Georgia legte das Buch wieder vor sich auf den Tisch und blätterte ein paar weitere Seiten mit ihren großen, steifen Fingern um. »Na ja, nicht sich selbst, vermute ich mal, nein.«
Drüben in der Küche, wo sie Erbsen schälte, stieß Vista ein gehässiges kurzes Lachen aus. »Hier sind alle möglichen Sachen passiert, die man in keinem offiziellen Geschichtsbuch finden wird«, sagte sie kopfschüttelnd.
Die beiden jungen Frauen starrten einander mit offenem Mund an. Doch Georgia las scheinbar ungerührt schon wieder Rezepte. »Hier ist es ja.« Sie schob ihre kleine Nickelbrille auf der Nase hoch und beugte sich tiefer hinab. »›Bei Verdauungs- und Schlafstörungen‹. Ich hatte ganz vergessen, dass wir früher Baldrian benutzt haben, Vista. Im alten Küchengarten wächst welcher.« Damit stand sie auf und holte sich in der Küche einen Korb und ein Messer.
Und schon war sie wieder weg, dachte Mary Elizabeth und folgte Maze, die schon hinter Schwester Georgia durch die Tür gelaufen war.
»Dann war das ein Tee gegen ungewollte Schwangerschaften?«, rief Maze Schwester Georgia nach. Sie musste praktisch rennen, um mit ihr Schritt zu halten.
»Du meinst also, manche der Schwestern haben …?«
Nun blieb Schwester Georgia stehen und sah Maze an. Ihre Miene war unergründlich, zumindest für Mary Elizabeth. Ab da gingen sie etwas langsamer, und Maze stellte keine Fragen mehr.
Irgendwie kam Mary Elizabeth alles an Schwester Georgia unergründlich vor. Wenn sie nicht draußen herumwanderte oder herumstreunte oder ihren Gottesdienst abhielt oder was auch immer sie tat, und wenn Vista tatsächlich zu Hause in der Schwesternwerkstatt war und »Georgia pflegte« – was einzig darin zu bestehen schien, ein Abendessen zu kochen, in dem die alte Frau nur stocherte –, dann verbrachten die beiden den Großteil ihrer Zeit mit Streiten.
Ständig und über alles, sagte Maze. Wann Erbsen und Kartoffeln zu pflanzen waren, zum Beispiel. Vista ging immer noch nach dem, was sie die »Logik des Tals« nannte: oberirdische Pflanzen bei Neumond, Wurzelfrüchte bei abnehmendem Mond. Und darüber hinaus sollte man immer nach den Tierkreiszeichen pflanzen, sagte sie, sollte säen, wenn die Sterne im Zeichen von Stier, Krebs, Waage oder Fische standen. Donner im Februar bedeutete Frost im Mai. Der erste Ruf der Laubheuschrecke hieß Frost exakt drei Monate später.
Georgia nannte solche Dinge Berg-Unsinn, obwohl Vistas Garten immer gut gedieh, so gut wie der von Schwester Mary früher, das musste sie zugeben. Vista hielt Georgia im Gegenzug vor, dass sie regelmäßig mit den Geistern der toten Shaker sprach – Mutter Ann, Schwester Mary und Bruder Benjamin, inzwischen vierzig Jahre tot, und auch mit der geheimnisvollen Schwester Daphna, »kohlrabenschwarz«, von der sie in den frühen Spiritual Journals der Shaker von Pleasant Hill gelesen hatte.
»Warum glaubst du, dass
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