Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
eine Handvoll Shaker übrig. »Aber stell dir nur vor, wie es damals war«, sagte Georgia oft zu Maze, »fünfhundert von uns, die singen, Gottesdienst feiern, in Frieden leben ohne die Gier und Gewalt der Welt!«
Und Maze hatte sich das wirklich vorgestellt. Sie hatte es sich für das Jahr 1830 vorgestellt. Und sie hatte es sich für die Gegenwart vorgestellt. Sogar die Stimme von Mutter Ann hatte sie gehört.
»Du lieber Himmel, Maze«, sagte Mary Elizabeth, als Maze ihr das erzählte. Sie konnte sich nicht beherrschen. »Was hatte Mutter Ann dir denn zu sagen? Und woher um alles in der Welt willst du wissen, dass sie das war?« Sie schwitzte jetzt ebenfalls heftig. Lag es an der Hitze, dass ihr so schwindlig und beinahe übel war?
»Es ist schwer zu erklären.« Maze schloss erneut die Augen. »Sie hat mir aufgetragen, nach einer wahrhaftigen Stimme zu horchen. Und irgendwie wusste ich, dass sie es war.«
Nach einer wahrhaftigen Stimme horchen? Was sollte das denn bitte bedeuten? Es war alles zu viel, dachte Mary Elizabeth, zu fremd und zu eigenartig, und bald empfand sie nicht nur Übelkeit, sondern Wut. Kannte sie diese junge Frau überhaupt, die sie hierhergebracht hatte? Diese Frau, die seit fast einem Jahr mit ihr zusammenwohnte, ihr das Gefühl gab, ganz normal zu sein, ihre Tränen trocknete und sie berührte wie eine Geliebte, sich dann vollkommen einem Mann hingab, der nicht ihr Ehemann war, einem Mann, den sie gerade erst kennengelernt hatte.
»Und überhaupt, ist es nicht längst zu spät für dich, eine reine Shaker-Schwester zu werden?«, sagte Mary Elizabeth auf einmal. Es kam heraus wie ein Husten oder ein Knurren. »Oder wolltest du eine von den Schwestern sein, die ›gefehlt‹ haben?«
Maze blickte sie an, in ihren Augen lag etwas, das für Mary Elizabeth aussah wie Mitleid. Das machte sie noch wütender.
»Also ich habe nicht vor, so bald schwanger zu werden, M. E., falls du das meinst. Wir sind da vorsichtig. Aber ich weiß nicht, ob ich inzwischen eine zu große Sünderin bin. Manchmal glaube ich, Georgia ist über diese ganzen alten Regeln längst hinaus.« Sie drehte sich zu der alten Frau um, die nun die Arme gesenkt und aufgehört hatte, sich zu drehen. »Und außerdem weiß ich gar nicht genau, warum du mir unbedingt erzählen willst, was für eine Sünderin ich bin. Dieses ganze gottesfürchtige Gerede in Berea über Sünde und dem Willen Gottes gehorchen und so weiter – willst du mir ernsthaft weismachen, dass du das alles noch gut findest?«
Als Mary Elizabeth daraufhin den Blick abwandte und auf den Boden richtete, stieß Maze ein lautes, ungeduldiges Seufzen aus. »Eigentlich will ich dich wohl nur fragen, M. E., was es dir je gebracht hat, eine aufrechte Christin zu sein.«
Mary Elizabeth hatte keine Antwort darauf. Sie sah Maze nur einen Moment lang an und drehte sich dann wieder zu Schwester Georgia um, die mittlerweile still vor ihnen stand, vielleicht fünfzehn Meter entfernt. Ihre Augen waren geschlossen, und ihre Lippen bewegten sich, flüsterten, murmelten etwas, Worte in einer Sprache, die Mary Elizabeth nicht verstehen konnte. Es erinnerte sie plötzlich an ihre Mama.
»Ich gehe jetzt, Maze.« Mit schnellen Schritten, Brennnesseln ausweichend und nach einer summenden Bremse schlagend marschierte sie den Pfad hinunter zur Schwesternwerkstatt. Während dieses Besuchs in Pleasant Hill ging sie nicht noch einmal zurück zum Holy Sinai’s Plain.
Eine Woche nach ihrer Ankunft in Pleasant Hill kam Mary Elizabeths Daddy, um sie abzuholen. Es war ein paar Tage früher als geplant. »Deine Mama braucht dich zu Hause«, erklärte er ihr.
Was er damit meinte, das wusste sie. Er brauchte sie dort, damit sie ein Auge auf ihre Mutter hatte, um die Bänke und den Fußboden seiner Kirche zu putzen, um mittwochabends und sonntagvormittags Klavier zu spielen und seine starke und getreue, gute christliche Tochter zu sein. Am Ende dieser Woche in Pleasant Hill konnte sie es erkennen: Nach Hause, in sein Haus, fuhr sie seinetwegen.
Als sie langsamer wurden, um von der Hauptstraße von Shakertown auf die Schnellstraße abzubiegen, fuhren sie an Schwester Georgia vorbei, die auf dem Weg zu ihrem täglichen Gottesdienst auf dem Holy Sinai’s Plain war. Sie redete, allerdings mit niemandem, den man sehen konnte. Mit Schwester Daphna vielleicht.
»Sie sagt, Schwester Daphna ist diejenige, die sie damals eingeladen hat«, hatte Maze erzählt. »Die sie befreit hat, die ihr geholfen
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