Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
die alle extra hierher zurückgekommen sind und mit dir sprechen?«, fragte Vista dann, und Schwester Georgia lächelte nur und schwieg.
Eines späten Vormittags schleppte Maze Mary Elizabeth über einen überwucherten Pfad auf einen Hügel am anderen Ende des Ortes, zu einer Lichtung, die sie Holy Sinai’s Plain nannte, um ihr zu zeigen, wovon Vista sprach.
»Sie kommt jeden Tag um zwölf hierher«, erzählte Maze, »um ihren Shaker-Gottesdienst zu feiern. Wenn es kalt ist oder regnet, geht sie ins Gemeindehaus, aber da drin ist kaum noch Platz, seit es vom örtlichen Wohlfahrtsverband als Lager für gespendete Möbel und andere Gegenstände benutzt wird.«
»Wie viel Platz braucht denn ein einzelner Mensch für so einen Gottesdienst?«, fragte Mary Elizabeth. Und wie machte man das überhaupt ganz allein, ohne Prediger?, dachte sie außerdem.
»Wart’s ab«, sagte Maze. »Du wirst es schon sehen.«
So eine Art, den Heiligen Geist zu empfangen, hatte Mary Elizabeth noch nie erlebt oder auch nur erzählt bekommen. Ganz sicher hatte sie so etwas nicht in der Kirche ihres Daddys gesehen. Als sie und Maze an jenem Tag das Plateau des Hügels erreichten, hörten sie Schwester Georgia, bevor sie sie sahen – ihre Füße, in diesen hohen, fest geschnürten Stiefeln aus einem anderen Jahrhundert, stampften im Rhythmus ihrer klatschenden Hände.
Sie setzten sich auf einen großen, flachen Stein, um sie zu beobachten. »Ich komme schon her, seit ich ein Kind bin«, flüsterte Maze. »Noch bevor Vista und ich zu ihr gezogen sind. Alle Kinder aus Shakertown haben das getan. Man könnte glauben, sie hätten über sie gelacht, aber so war es nicht. Komischerweise hatte sie diese Wirkung auf jeden. Niemand hat je gelacht oder auch nur einen Mucks gesagt. Wir haben alle nur zugesehen, und wenn sie fertig war, kam sie zu uns und hat uns alle umarmt, und dann hat sie Bonbons oder Kekse für uns alle aus ihren Rocktaschen geholt.«
Nun wirbelte Schwester Georgia in immer größeren Kreisen herum, die Arme ausgebreitet. Sie summte eine seltsame kleine Melodie, stampfte in regelmäßigen Abständen mit dem Fuß auf, und sie wirkte viel jünger als ihre bald neunzig Jahre. Auf ihrem Gesicht leuchtete eine Glückseligkeit, die sich vertraulich und merkwürdig anfühlte – beinahe unangenehm zu beobachten. Mary Elizabeth musste den Blick abwenden, doch als sie zu Maze schielte, sah sie, dass ihre Freundin die Augen geschlossen hielt und lächelte. Auch ihr Gesicht leuchtete, vielleicht vom Schweiß, aber scheinbar auch vor Freude.
Maze schlug die Augen auf und bemerkte, dass Mary Elizabeth sie beobachtete. »Weißt du, M. E.«, sagte sie, ihre Stimme klang eindringlich, bestürzend klar und nah. »Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich selbst den Bund unterzeichnen soll. Du findest das bestimmt seltsam, aber wenn ich Harris nicht getroffen hätte, dann hätte ich es auch getan, glaube ich.« Sie sah sich zu Schwester Georgia um. »Als ich etwas älter wurde, habe ich manchmal mit ihr hier oben den Gottesdienst gefeiert. Es gibt hier wirklich Geister, M. E. Ein paarmal hab ich die Stimme von Mutter Ann gehört.«
In jener Woche erzählte Maze Mary Elizabeth noch mehr von den Shakern – von ihrer Gründerin, Mutter Ann Lee, die sich damals im 18. Jahrhundert in England einer Gruppe ehemaliger Quäker anschloss. Sie tanzten und schüttelten sich beim Gottesdienst, weshalb man sie »Shaking Quakers« und schließlich nur »Shaker« nannte. Sie selbst bezeichneten sich als die Gesellschaft derer, die an die Wiederkunft Christi glaubten, die United Society of Believers in Christ’s Second Appearing .
Mutter Ann hatte Visionen, sagte Maze. In einer dieser Visionen erkannte sie, dass Christus wiederkehren würde, dieses Mal in weiblicher Gestalt. Später würden ihre Anhänger behaupten, dass diese weibliche Gestalt die von Mutter Ann sei.
Eine Gruppe kam aus England und ließ sich im Norden des Staates New York nieder. Ihre Missionare brachen gen Westen auf, rekrutierten Konvertiten und bauten weitere Shaker-Gemeinden, einschließlich der in Pleasant Hill. Auf dem Höhepunkt, um 1830 herum, gab es dort fast fünfhundert Shaker. Sie lehnten Sklaverei ab und waren Pazifisten, sie gaben all ihren weltlichen Besitz auf, und sie behielten das Tanzen als Teil ihres Gottesdienstes bei. Und sie lebten keusch zusammen, als Brüder und Schwestern.
Als Schwester Georgia sich der Gruppe anschloss, 1911, waren in Pleasant Hill nur noch
Weitere Kostenlose Bücher