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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Mary und Bruder Benjamin zum Essen setzte, erzählte sie nicht, was sie gefunden hatte. Am nächsten Morgen nach dem Melken, Eiersammeln und Brotbacken kehrte sie zurück.
    Jeden Tag kam sie dorthin. Sie war sich gewiss, dass Schwester Mary und Bruder Benjamin wussten, wohin sie ging und warum. Aber sie sagten nichts. Eine Woche, nachdem sie Holy Sinai’s Plain entdeckt hatte, sah Georginea sie. Genauer gesagt hörte sie sie zuerst. Ihr Atem erfüllte die Luft, als Georginea die langgezogene Anhöhe bis zur Kuppe des Hügels hinaufstieg und den Arm ausstreckte, um die Rinde der wartenden Tanne zu berühren, wie sie es immer tat, um sich zu überzeugen, dass dieser Ort, ja dieses Land real war. Es war ihr Atem und noch ein anderes Geräusch, wie donnernde Hufe – Füße in geschnürten Stiefeln, die auf die festgetretene Erde stampften, obwohl da keine festgetretene Erde mehr war, nur braunes Gras und Tannennadeln und hier und dort verstreut Eichenlaub.
    Es war Schwester Daphna, das wusste Georginea sofort. Schwester Daphna, kohlrabenschwarz, mit im silbernen Licht glänzender Haut, tanzend, wirbelnd, betend, zum Bersten angefüllt mit dem Geist von Mutter Ann. Ihre Augen waren fest geschlossen, die Arme um ihre Brust geschlungen. Als Georginea näher kam, schien sie sich schneller zu bewegen, und ein Schwarm wütender Krähen flog unter lautstarkem Krächzen vom Wipfel der zweiten Tanne auf, als hätten sie Angst vor dem unerbittlichen Stampfen der Füße von Schwester Daphna.
    Als Schwester Daphna stehen blieb, um Atem zu schöpfen, öffnete sie die Augen und blickte Georginea an. Sie streckte die Hand aus. Doch Georginea war wie gelähmt, festgewachsen an dem Fleck, auf dem sie stand und Daphna beobachtete – wie lange schon? Minuten? Stunden? Wo war die Sonne? Es war unmöglich, die Zeit abzuschätzen. Ganz allmählich zog Schwester Daphna ihre Hand zurück. Zuerst wirkte sie enttäuscht, dann friedvoll, als sie die Augen schloss und die Hände faltete und langsam und entschlossen von Georginea fort, über den Hügel und zurück Richtung Dorf ging.
    Eine Woche lang kehrte Georginea nicht zum Holy Sinai’s Plain zurück. Wieder schlief sie unruhig, träumte von Krähen und verwüsteten Äckern voll verdorrtem Mais. Wenn sie nachmittags spazieren ging, dann immer in die entgegengesetzte Richtung, zum Shawnee Run Creek und dem alten Shaker-Friedhof. Dort, zwischen den Reihen unbeschrifteter Steine, fühlte sie sich verstört von ihrer eigenen Schwäche und Furcht. Was bedeutete es, dass sie die Hand der Frau zurückgewiesen hatte?
    Etwas abseits der ordentlichen Shaker-Gräber lagen einige andere. Darunter waren auch die Gräber mehrerer Soldaten, die während des Krieges von den Schwestern gepflegt worden waren. Damals waren die Shaker von Pleasant Hill gezwungen worden, tausende konföderierte Soldaten zu kleiden, ernähren und versorgen, obwohl sie deren Ziele grundsätzlich ablehnten. Eingraviert in einen dieser Steine war der Satz: »Seine letzten Worte waren: ›Sagt ihnen, ich bin ein verlorenes Kind aus dem Staate Georgia.‹«
    Georginea rieb mit den Fingern über den kalten Stein und schrak auf, als Schwester Marys Stimme genau hinter ihr ertönte.
    »Was bekümmert dich so, mein Kind? Warum hast du Holy Sinai’s Plain aufgegeben?« Und als Georginea ihre Furcht zu erklären versuchte, die Erscheinung, die sie gehabt hatte, ließ Schwester Mary keine Überraschung erkennen.
    »Dann bist du also eine Visionärin«, sagte sie. »Mutter Ann hat sich in der Gestalt dieser Schwester an dich gewandt, die dir am Holy Sinai’s Plain erschienen ist.«
    »Aber warum konnte ich ihre Hand nicht ergreifen?« Georgineas Stimme war ein heiseres Flüstern.
    »Weil du die Sünde noch nicht gebeichtet hast, die dich hergeführt hat, mein Kind.« Schwester Mary legte den Arm um Georgineas Schultern und führte sie vom Friedhof zurück ins Dorf zum alten Gemeindehaus. Dort zündete Schwester Mary eine staubige Laterne an, setzte sich auf eine der grob gezimmerten Bänke, schloss die Augen und wartete.
    Und während Georginea dort auf der Schwelle stand, den Geruch von Schimmel und verfaulendem Holz einatmete, diesen fortschreitenden Verfall des einst heiligen Gebäudes, hörte sie erneut Schwester Daphnas Atem, dann das Stampfen ihrer Füße auf den ausgetretenen Holzdielen des Fußbodens. Obwohl Georginea sie nicht sehen konnte, wusste sie doch, dass sie da war, erneut die Hand nach ihr ausstreckte und sie auf den

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