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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Fußboden zu Schwester Marys Füßen zog. Dieses Mal zögerte Georginea nicht. Sie ließ sich führen, sie vergrub das Gesicht in Schwester Marys Schoß und schluchzte.
    Als sie schließlich zu weinen aufhörte, strömte weiches Mondlicht durch die Fenster des Gemeindehauses, und sie erhob sich und setzte sich neben Schwester Mary auf die Bank. Dann begann sie ihre Beichte. Ehe die Nacht vorbei war, weckten die beiden Frauen Bruder Benjamin aus einem tiefen, volltönenden Schlaf, um die Abschrift des Shaker-Bundes zu holen. Und Georginea Fenley Ward verschrieb sich, Körper und Seele und all ihre irdischen Güter, der Society of Believers in Christ’s Second Appearing .
    Welche Sünden hatte sie gebeichtet? Nicht den Stolz, der zu ihrer Entlassung aus Berea geführt hatte, auch nicht ihre Verachtung für Mr Parks und die anderen Sklavenhaltersprösslinge in Beau Rive. Nicht einmal die Kluft zwischen ihr und ihrem Vater, die ihrem Empfinden nach – und Schwester Mary stimmte ihr da zu – eine natürliche Reaktion auf ihre Enttäuschung über ihn und andere in seiner Position gewesen war, über das Nachlassen ihres Mutes und ihrer Überzeugungen, über ihre Unfähigkeit, nach den Prinzipien zu leben, die sie wertzuschätzen behaupteten.
    Keines dieser Gefühle und keine dieser Taten aus der Vergangenheit wurden von Schwester Mary und Bruder Benjamin, oder auch von ihr als neu beigetretenem und überzeugtem Shaker-Mitglied, für Sünden erachtet. Ihre Sünde war einfacher und gleichzeitig viel tiefgreifender als das. Es war die Sünde, die die Menschheit seit dem Sündenfall plagte, die Sünde, die Mutter Ann und ihre Anhänger bis in den Tod bekämpft hatten – die der sexuellen Leidenschaft, der Lust.
    Die Schuld lag nicht in Tobias Jewells Hautfarbe. Sie lag schlicht in der unverkennbar animalischen Begierde, die Georginea empfunden hatte. Die animalische Begierde, die sie seit nun annähernd zwanzig Jahren quälte, ihren Schlaf störte, ihre zermürbenden körperlichen Schmerzen verursachte. Die Erkenntnis raubte ihr fast den Atem, und sie hörte das Trommeln von Schwester Daphnas Füßen lauter denn je zuvor, spürte wieder die Hitze und Röte in sich aufsteigen, schwitzte trotz der kalten, mondhellen Nacht im ungeheizten Gemeindehaus, wo sie ihren Atem in heftigen Stößen hervorquellen sah. Die Schuld lag in ihrem eigenen zutiefst menschlichen Verlangen, der Sehnsucht, der sie mehr als einmal als Studentin nachgegeben und die sie seit ihrer ersten Begegnung mit Tobias verfolgt hatte. Sie war – gewiss von Gott oder von Mutter Ann – noch rechtzeitig zu Schwester Mary und Bruder Benjamin geführt worden, um das zu begreifen. Sie hatte noch viele Jahre zu leben, um all die verlorene Zeit aufzuholen, all die Jahre der Verwirrung und des Leidens.
    Der Name, mit dem sie den Bund unterzeichnete, war ihr neuer Shaker-Name, den sie gewählt hatte, wie sie sagte, um sich immer an ihren Platz dort in Pleasant Hill zu erinnern. Es war der Name eines abtrünnigen Staates und der Heimat eines namenlosen Soldaten, eines Kindes, das in den sinnlosen Schlachten von Männern verloren ging und nun in alle Ewigkeit in der Erde dieser friedliebenden, gottesfürchtigen Menschen ruhte. Sie würde ihn ehren und gleichzeitig nie ihre eigene Stellung als Wandernde vergessen. Wie er war sie ein verlorenes Kind und nun zu Hause: Schwester Georgia.

Pilger und Fremde
    1962
    D er Schmerz zwischen Mary Elizabeths Schultern dauerte den ganzen Sommer nach ihrem Besuch in Pleasant Hill an, und ihre Hände kribbelten und wurden taub, wenn sie versuchte, Klavier zu spielen. Noch vor dem vierten Juli hatte sie ihrem Daddy mitgeteilt, dass sie nicht mehr in der Kirche spielen könnte. Danach hörte sie ganz auf.
    Schlafen konnte sie allerdings, dank des großen Pakets Baldriantee, das sie aus Pleasant Hill mitgebracht hatte. An manchen Tagen kochte sie gegen Mittag eine Kanne für sich und ihre Mama. Dann verschliefen beide den restlichen Tag, gähnten und lächelten einander scheu in der Küche an, wenn sie aufstanden, um gemeinsam das Abendessen zu kochen. Mary Elizabeth bemühte sich, nicht darüber nachzudenken, was es bedeutete, so gern zu schlafen, wie ihre Mama es offenbar tat.
    Bis zum Herbst war ihr kein besserer Plan eingefallen, und ihr fehlte auch die Energie für einen Streit mit ihrem Daddy, also kehrte sie nach Berea zurück. Sie würde wieder mit Maze zusammenwohnen, im alten Wohnheim. Es gab auch ein neues Wohnheim, ein

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