Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Ausreden, ehe sie das Mädchen fortschickte.
An die Bryants hatte er ebenfalls geschrieben – einen völlig anderen Brief, förmlich und zivilisiert und lediglich ein Ausdruck seiner »väterlichen Besorgnis«, so behauptete er. Georginea wusste, dass sie erneut mit Sicherheit ihre Stelle verlieren würde, die einzige Arbeit, die sie gelernt hatte, ihre einzige Möglichkeit, vollbeschäftigt und wahrhaft selbständig zu sein. Als der Frühling kam und das Misstrauen der Bryants stärker wurde, spürte sie sich versinken und dann schweben, ihr Körper wurde dünn und schwach, gebrechlich, absolut nutzlos in einer solchen Welt. Da beschloss sie, das seltsame Land aus ihren Kindheitserinnerungen zu besuchen. Und sie redete sich ein, dass es ein passender Ort zum Sterben für sie wäre.
»Gott hat uns alle hergeführt«, sagte Schwester Mary und holte Georginea zurück zu ihrem Versagen am Bachufer. Und als sie die düstere Wolke bemerkte, die dabei über Georgineas Miene zog, streichelte Schwester Mary ihr über das Haar. »Gott und Mutter Ann und die Launen der Welt. Nur zwei von uns sind noch übrig«, seufzte sie. Dann rezitierte sie ein Gedicht einer ihrer längst verstorbenen Schwestern mit einem sonderbaren Namen: Hortency Hooser. »Beinahe eintausend in siebzig Jahren haben hier bei uns schon Trost erfahren«, setzte sie mit bebender Altfrauenstimme an, die Augen geschlossen, den Kopf zur Decke erhoben.
Und dann wurde ihre Stimme kräftiger, und sie sang für Georginea, die ebenfalls ihre Augen zumachte und sich dieser eigentümlichen Musik und der Wirkung des merkwürdig riechenden Tees ergab, während sie langsam einschlief.
Der Vater einer ihrer Schülerinnen am Beau Rive Daughters’ College habe gedroht, sie umzubringen, erklärte sie Schwester Mary, als sie wieder aufwachte, dieses Mal in der Abenddämmerung, mit dünneren Verbänden an den Armen. Nachdem sie etwas Brühe getrunken und ein paar Bissen Brot gekaut hatte, sah sie, dass Schwester Mary einen alten Mann mit einem weißen Vollbart bei sich hatte, den sie Georginea als Bruder Benjamin vorstellte.
»Erzähl uns, was dich hierhergeführt hat, mein Kind«, bat Schwester Mary, nachdem Bruder Benjamin das Tablett mit dem Essen weggebracht hatte und zurück ins Zimmer gekommen war. Und so fing Georginea an, über ihr Leben zu sprechen, und Schwester Mary und Bruder Benjamin hörten aufmerksam zu. Sie redete, bis die Schatten der Nacht in den Raum krochen und Bruder Benjamin ihr bedeutete, einen Moment zu warten, während er sich langsam erhob und steif die Vorhänge vor das Fenster zog.
Niemand hatte sie je zuvor nach ihrem Leben gefragt. Jetzt, da es endlich jemand getan hatte, schien es so viel zu erzählen zu geben, dass sie nicht mehr aufhören konnte. Vielleicht lag es an dem Tee, dachte sie, denn sie traute diesem Drang, ohne Pause zu sprechen, nicht so recht, dieser Angst, dass, wenn sie aufhörte, wenn sie einschliefe und ein drittes Mal aufwachte, die mysteriösen Erscheinungen fort wären und sie mit dem konfrontiert werden würde, was sie getan hatte. Beziehungsweise nicht getan hatte.
»Ich glaube, was mich hergeführt hat, was mich letztendlich an diesen Punkt gebracht hat« – an dieser Stelle hob sie ihre verbundenen Handgelenke – »war, was erst vor zwei Tagen in Beau Rive passiert ist.«
»Und wo ist Beau Rive?«, fragte Schwester Mary höflich, und Georginea stellte erst mit Schrecken und dann mit Entzücken fest, dass diese beiden alten Bewohner des Ost-Familien-Hauses, jetzt Shaker Inn – die letzten verbliebenen Shaker an diesem einst dicht besiedelten spirituellen Ort –, nichts über die Welt in nur zehn Kilometern Entfernung wussten.
»Beau Rive ist eine Schule für junge Frauen«, erklärte sie ihnen, und da sie es endlich aussprechen durfte, ergänzte sie: »Weil die Schülerinnen die Töchter ehemaliger Sklavenhalter sind, von Männern, die ihr Vermögen damit gemacht haben, andere Menschen wie Tiere zu behandeln, halten die Gründer und alle, die mit dem College in Verbindung stehen, sich für eine Art soziale Elite.«
Sie sah zu Schwester Mary und Bruder Benjamin auf, die ihren Blick einfach nur erwiderten, gespannt lauschten und warteten, was sie als Nächstes sagen würde, ohne eine spezielle Empfindung oder Kritik an dem erkennen zu lassen, was sie ihnen erzählte. So freimütig hatte sie sich seit ihren Tagen in Oberlin und ihren Anfangsjahren in Berea nicht zu äußern gewagt.
Davon ermutigt ging sie
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