Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
noch weiter: »Sie sind vollkommen verblendet. Zum Beispiel wollen sie nichts vom Wort Gottes hören, was sich gegen die Trägheit und Vergeudung ihres Lebens richtet.« Bei diesen Worten nickten Schwester Mary und Bruder Benjamin.
Doch das ganze Reden musste sie wohl ermüdet haben. Zwei alte Menschen waren ihrer Meinung; was konnte das denn schon ausmachen?
Sie seufzte und rutschte etwas tiefer auf die leichten Daunen der Kissen unter ihrem Kopf. »Es spielt jetzt ohnehin keine Rolle mehr. Ich weiß, dass sie mich dieses Wochenende fortgeschickt haben, um alles für meine Entlassung vorzubereiten. Ich werde auch diese Stelle verlieren.«
Bruder Benjamin räusperte sich und sagte: »Dann, mein Kind, möchtest du vielleicht ein Weilchen bei uns bleiben. Um dich von einer Welt zu erholen, die dich so weit von Gottes Güte und Gnade entfernt hat.«
Und dieses Mal sangen Bruder Benjamin und Schwester Mary gemeinsam für sie. Ihre Münder öffneten sich wie die kleinen roten Münder von Engeln, dachte Georginea, obwohl beide Gesichter tiefe Furchen hatten und Bruder Benjamins langer, ungepflegter Bart von Brotkrümeln seines Abendessens gesprenkelt war. Ihr Leben war nicht einfach gewesen, und ihre ausgeblichene und abgetragene, wenn auch perfekt saubere und gebügelte Kleidung verriet ihre sehr begrenzten Mittel. Doch die Anmut und Reinheit ihrer brüchigen alten Stimmen rührten Georginea zu Tränen.
Eigenartig, aber es schien so einfach wie den Kopf zu drehen, ganz leicht nur. Und allein durch diese winzige Veränderung konnte sie allmählich wieder sehen, nicht nur ihre Umgebung in der Gegenwart, sondern auch ihre Vergangenheit. Alles, jeden Ort, an dem sie gewesen war. Und nun, vielleicht zum ersten Mal, sah sie die Schönheit darin.
Und sie sah sie nicht nur, sie hörte sie. Schmeckte sie. Roch sie. Wie konnte sie auch anders, wo sie sich doch inmitten der Geister von Hortency Hoosers »beinahe Eintausend« befand, diesen Liebhabern von Pfirsichen und Quittenmarmelade und Malz, von der rauen Festigkeit handgesponnener Wolle und Beiderwandstoffe, von gewölbten Steinzäunen und Sonnenlicht in schmucklosen, perfekt proportionierten Fenstern, von sorgfältig bestellten Gärten voller duftender Kräuter?
Es war der Duft von Kräutern, der alles in Gang setzte an jenem Morgen, als sie schließlich ihr Bett im ersten Stock des Shaker Inn verließ. Der Geruch kam vom Bettpfosten, stellte sie fest. Dort hing neben ihrem Kopf ein kleines Musselinsäckchen, das das stechende, nicht unbedingt unangenehme, aber auch nicht gerade liebliche Aroma von Wurmkraut, Schafgarbe und Wermut verströmte: die Zutaten, sollte sie erfahren, des unfehlbaren Insektenschutzmittels der Shaker.
Vorsichtig stieg sie aus dem Bett und zog sich langsam an. Als sie einen Ärmel über ihr empfindliches Handgelenk zog, erschauerte sie.
In der Küche im Erdgeschoss wartete eine Schale Walderdbeeren auf sie, und sie steckte sich ein halbes Dutzend schnell hintereinander in den Mund, erstaunt über ihre Süße. Und in dem Augenblick spürte sie es. Es war eine sonderbare, körperliche Empfindung, fast ein Reißen, nicht schmerzhaft, aber in jedem Fall abrupt, in ihrem Hals. Sie hatte den Kopf ganz leicht gedreht, einfach so, und die plötzliche Flut von Sinneseindrücken, dem süßen Beerensaft, dem Duft von Heilkräutern in der Luft und dem sonnengesprenkelten Frühmorgendunst, machte sie beinahe ohnmächtig.
Und dann war Schwester Mary da. War da mit frischer Milch, war da, um sie ach so sanft am Ellbogen zu fassen und an den Tisch zu setzen und ihr das wunderbarste Frühstück zu servieren, das sie je gegessen hatte – Beeren, Brötchen und Milch, auf der noch der cremige Rahm schwamm.
»Iss jetzt, mein Kind.« Schwester Mary tätschelte Georgineas Hand, als sie, plötzlich verlegen über ihren Heißhunger, innehielt. »Iss für all die Jahre der Leere und des Hungers. Sammle deine Kräfte für das Werk des Herrn.«
Also aß sie an diesem Tag und den folgenden, und sie wurde kräftiger. Im Gegensatz zu der verlorenen Georginea Ward jener letzten Wochen in Beau Rive, wo sie sich teilnahmslos und wie unter Wasser durch die ununterscheidbaren Tage geschleppt hatte, erledigte sie ihre Aufgaben als Shaker-Novizin mit der Schnelligkeit und Energie einer Frau, die halb so alt war wie sie. Selbst nach ihren ruhelosen, quälenden Nächten, die sogar hier fortdauerten.
Abends, wenn Schwester Mary und Bruder Benjamin ins Bett gingen, las sie mit der
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