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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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gleichen Energie und einem fast verzweifelten Verlangen. Nun waren es aber nicht die englischen Dichter und auch nicht das Werk von Harriet Beecher Stowe. Vielmehr las sie eine eigentümliche Reihe von Protokollen mit dem Titel Spiritual Journals , die um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts aufgezeichnet worden waren, als die Shaker von Pleasant Hill, wie ihre Mistreiter anderswo im Westen und Osten, in Mutter Anns Arbeit vertieft waren. Sie hatten Visionen, erhielten Gaben von lindernden Ölen und Sträuchern, aus denen, wenn man sie schüttelte, schneeweiße Tauben fielen, die sich in Engel mit noch mehr Geschenken verwandelten – Öle und Balsame von Tugend, Weisheit, Frieden. Und auf dem Höhepunkt dieser ekstatischen Phase in den 1840ern empfingen sie in ihrem Gottesdienst gewisse Shaker-Werte in menschlicher Form – die zauberhafte Schwester Tugend und die dunkle und gebieterische Mutter Weisheit. Bei bestimmten Gelegenheiten gesellten sich den Spiritual Journals zufolge sogar Menschen wie William Penn und der indianische Häuptling Tecumseh zu ihnen.
    Aus diesen Protokollen erfuhr Georginea von einem heiligen Platz namens Holy Sinai’s Plain, einem Plateau, auf dem die frühen Shaker von Pleasant Hill ihre spirituellen Gäste empfangen hatten. Auf einem langen, ziellosen Spaziergang an einem stürmischen Oktobertag fand sie ihn schließlich. Es war unbestreitbar, dass dies der Platz war, auch wenn Schwester Mary und Bruder Benjamin nur die Achseln zuckten, als sie danach fragte. »Das waren andere Zeiten. Unsere Brüder und Schwestern hörten die Stimme von Mutter Ann auf unterschiedliche Art und Weise – die Wege dieser Generation sind nicht unsere.« Mehr war Schwester Mary nicht zu entlocken.
    Aber es musste Holy Sinai’s Plain sein, das wusste Georginea. Zwei hohe Tannen schwankten über ihrem Kopf, und das grauweiße, durch einen bewölkten Herbsthimmel gefilterte Licht der Sonne schien auf einen unregelmäßigen Steinkreis, als sie einen Hügel südöstlich des alten Gemeindehauses erklomm.
    Es war dieses Licht auf den Steinen, das ihr zuerst auffiel. Sie schienen in jenem eigenartigen Nachmittagsdunst beinahe zu vibrieren, und Georginea bemerkte, dass ihr, obwohl der Wind ihr mit Macht ins Gesicht und um den Kopf mit dem Häubchen blies, plötzlich furchtbar warm war. Sie schwitzte sogar, als wäre es ein schwüler Sommertag, und die Luft um sie herum fühlte sich schwer und dicht an und schien auf einmal zu summen.
    August 1845. 14. Donnerstag, 8 Uhr abends. Nachdem er ein paar Lieder marschiert war, kehrte Vater William vom Holy Sinai’s Plain zurück, in Begleitung einer strahlenden Schar goldener Engel und beglückter Geister. Sie sagten, wir sind gekommen, um mit den Gläubigen zu frohlocken und ihre eifrige und aufrichtige Hingabe zu segnen; denn die Wolken verwehen rasch. Dann fuhr der Geist von Mutter Ann in Schwester Daphna, und ihre Ebenholzhaut glänzte in Gottes Licht, als sie all das Böse, das sie umgab, herausschüttelte, all die Feinde bannte. Hütet euch vor den Übeln des Fleisches, dem Gelächter der schwarzen Krähe, sagte sie mit der Stimme von Mutter Ann, und dann kam eine große Schar heiliger Geister und brachte Gaben von spitzen Ruten mit leuchtenden Kugeln am Ende. Und als sie die Kugeln der dort versammelten Gesellschaft entgegenschüttelten, wurden alle mit Gaben von süßen Ölen der Tugend und Güte und Mutter Anns reinem Licht gesegnet.
    Ganz still stand Georginea dort in dem sonderbaren Licht auf dem Plateau, erhitzt und mit roten Wangen und außer Atem, und erinnerte sich. Etwas – ein Taubenflügel? – flatterte an ihrem Kopf vorbei. Doch als sie sich umdrehte, war da rechts von ihr nur die Tanne, deren Rinde wie vom Regen glitzerte, obwohl die Luft kalt und trocken war.
    Mutter sagte: »Seid beherzt.« Der himmlische Vater gab jedem eine goldene Schale, daraus zu trinken und einander daraus zu besprengen. Sträucher der Reinheit wurden auch jedem gegeben, sie über einander zu schütteln. Reben der Heiligkeit wurden vom heiligen Erlöser geschenkt, sie um das Becken herum zu pflanzen, was die Versammlung in ihrer Gesamtheit tat. Himmlische Rufe wurden nun ausgestoßen – himmlische Schätze in der Form von Kugeln wurden ebenfalls empfangen. Trompeten erklangen.
    Sie stand an dem heiligen Platz, bis ihr Herz endlich wieder ruhiger schlug. Das Licht um sie herum änderte sich, der kühle Wind drang zu ihrer Haut vor. Als sie sich an jenem Abend mit Schwester

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