Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
kleines für Frauen der Oberschicht – weiße Frauen, selbstverständlich, wenn es auch nicht ausgesprochen wurde –, in dem Maze hätte unterkommen können. Mary Elizabeth vielleicht auch, dachte sie manchmal, wenn sie das Konzert gespielt hätte. Wenn sie die Hoffnungen, die man in sie gesetzt hatte, erfüllt hätte.
»Mir ist es schnurzegal, wo wir wohnen«, sagte Maze. »Ich wünschte nur, ich müsste überhaupt nicht zurück in das verdammte Kaff.« Nachdem sie im vorangegangenen Frühjahr angefangen hatte, so viel Zeit mit Harris Whitman zu verbringen, hatten die Leute in der Webhütte schnell begriffen. Maze stellte ihr Pensum in vier oder fünf Wochenstunden statt der vorgeschriebenen zehn fertig. Das kam in der Webhütte nicht so gut an, deshalb hatte sie in ihrem zweiten Jahr in Berea eine Arbeit in der Bibliothek zugeteilt bekommen. Doch stundenlang drinnen still zu sitzen, ohne die Pedale im Takt eines Lieds in ihrem Kopf zu treten, ohne die Reihen zu zählen und das Schiffchen durchzuschieben, war nichts für Maze.
»Warum nicht die Gärtnergruppe?«, fragte sie, als sie und Mary Elizabeth am Sonntagabend vor dem Unterrichtsbeginn ihre Koffer auspackten und das Zimmer einräumten. »Wenigstens käme ich dann ein bisschen an die Luft .«
Mary Elizabeth lächelte und schüttelte den Kopf. »Weiß ich auch nicht, Maze. Es klingt wirklich, als hätte sich jemand einen Witz daraus gemacht.« Sie selbst war zurück in die Spülküche des Speisesaals versetzt worden.
An jenem Abend schleuderte Maze ihre Schuhe von sich und fiel mit einem Ächzen auf ihr schmales Bett. »Tja, wenigstens bist du wieder hier bei mir, M. E.« Sie richtete den Finger auf sie und sagte: »Wehe, du gehst weg. Ich will dich hier in diesem Zimmer haben oder in deinen Kursen oder mit mir zusammen draußen. Du bist das Einzige, was mich an diesem gottverlassenen Ort hält.«
Mary Elizabeth schnaubte. »Aber sicher doch, Maze.« Erst eine Stunde vorher war Maze von einem langen Spaziergang mit Harris Whitman zurückgekehrt.
In jenem Herbst verbrachte Maze ein Gutteil ihrer Zeit mit Harris und mit seinen Freunden, die auch ihre Freunde wurden. Die meisten von ihnen waren bereits im letzten Collegejahr, und da Mary Elizabeth keine Ahnung hatte, was sie sonst mit sich anfangen sollte, schloss sie sich ihnen manchmal an. Anfangs fühlte sie sich dabei wie eine nervige kleine Schwester, obwohl die anderen sie nicht so behandelten. Sie machte einen großen Bogen um das Musikgebäude und versteckte sich hinter Mauern oder Studentengrüppchen, sobald sie Mr Roth auf einem der Campuswege entdeckte. Einmal im Frühsommer hatte er in der Kirche ihres Daddys angerufen und seine Nummer hinterlassen, doch sie rief ihn nie zurück, und er hatte sich nicht noch einmal gemeldet.
Maze verlor nie ein Wort über das Klavierspielen. Stattdessen schleppte sie Mary Elizabeth mit zu Abendspaziergängen in diesem neuen Freundeskreis, zu stundenlangem Kaffeetrinken und Reden und schließlich zu den Treffen der Mitarbeiter der Collegezeitung. Der in diesem Jahr für die Leitartikel zuständige Student war Daniel Burgett, Mary Elizabeths potenzieller Tanzpartner damals am Neujahrstag. Es kam ihr vor, als wäre das in einem anderen Leben gewesen.
Daniel war ein Rätsel. Manchmal, wenn er glatt rasiert war, erinnerte er Mary Elizabeth an Bilder von William Kapell, dem gutaussehenden Pianisten, der bei einem Flugzeugabsturz gestorben war, als sie noch ein Kind war. Genauso dunkel und grüblerisch, wie ein Filmstar. Allerdings war Daniel dünn und nicht sehr groß. Normalerweise trug er einen ungepflegten Bart, und er war intellektuell, daher von wenig Interesse für die meisten jungen Frauen in Berea. Dennoch kursierten Geschichten über ihn auf dem Campus. Er sei aus West Virginia, behaupteten die einen, der Enkel eines in der Schlacht von Blair Mountain getöteten Bergarbeiters. Deshalb lege er sich so für die Gewerkschaften ins Zeug. Nein, sagten die anderen, er sei Kreole, Sohn eines weißen Soldaten und einer Schwarzen aus New Orleans. Deshalb das ganze Gerede und Geschreibe über Berea und sein »Rassenproblem«.
Er wirkte tatsächlich zu dunkel, und seine Haare waren zu lockig, um weiß zu sein, dachte Mary Elizabeth. Aber schwarz sah er auch nicht aus. Er war still und ernsthaft, und um ehrlich zu sein, machte er ihr Angst. Er gab nichts über seine Vergangenheit oder seine Herkunft preis, selbst wenn er geradeheraus gefragt wurde. Er rauchte endlos
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