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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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übriggehabt, sagte Daniel, trat von einem Fuß auf den anderen und nahm einen langen, trägen Zug, bei dem Mary Elizabeth wünschte, sie hätte die angebotene Zigarette angenommen.
    Sie auch nicht, sagte sie.
    Er höre lieber den Blues. Ob sie den Blues möge?
    Sie sei eigentlich nicht sehr vertraut mit dem Blues, sagte sie.
    Besonders gefalle ihm Muddy Waters. Er wolle ihr bei Gelegenheit mal eine seiner Muddy-Waters-Platten vorspielen. Vielleicht I Feel Like Going Home. Das sei wahrscheinlich sein Lieblingslied. Ob sie es kenne?
    Nein, sagte sie.
    Er nahm einen letzten Zug von seiner Zigarette und zertrat die Kippe mit dem Schuh. Beide beobachteten sie ihn dabei, dann sahen sie einander an und lachten. Mary Elizabeth warf einen Blick zur Tür.
    »Wir sollten wohl mal reingehen«, sagte sie.
    Doch er berührte sie sachte am Arm. Sie könne so viel besser Französisch als er. Vielleicht könne sie ihm bei etwas helfen. Er versuche gerade, Der Fremde im Original zu lesen.
    » L’Etranger «, sagte er, und sie glaubte, ihn unter seinem Bart erröten zu sehen. Er zog das Buch aus der Jackentasche, und sie musste lachen.
    Er sah sie überrascht an. Vielleicht sogar verletzt.
    Aber sie deutete auf das Buch. »Du hast ein Buch zu einem Tanzabend mitgebracht?«
    Lächelnd nickte er und blickte dann zu Boden.
    »Ich wünschte, ich wäre auf die Idee gekommen«, sagte sie.
    Daraufhin gingen sie zusammen in den Ort, in das Café auf dem Marktplatz. Nachdem sie ihren Kaffee bekommen hatten, fand er die Zeilen im Buch und zeigte sie ihr. »Es ist die Stelle, wo Meursault sich vorstellt, frei zu sein und eine Hinrichtung zu beobachten«, erklärte er.
    Á l’idée d’être le spectateur qui vient voir et qui pourra vomir après, un flot de joie empoisonnée me montait au cœur.
    Sie trank einen Schluck Kaffee und räusperte sich. »Tja«, sagte sie. »Das muss ungefähr heißen: ›Bei der Vorstellung, der Beobachter zu sein, der kommt um zuzusehen und sich hinterher übergeben könnte, stieg eine vergiftete Freude in meinem Herzen auf.‹« Sie sah Daniel über den Tisch hinweg an, unsicher, ob er einen Witz machte oder sie vielleicht irgendwie auf den Arm nahm.
    »Was genau findest du daran schwierig?«, fragte sie.
    »Na ja, ich werde einfach nicht ganz schlau daraus, und ich dachte, wenn ich besser Französisch könnte, käme ich vielleicht dahinter.« Er griff nach dem Buch und betrachtete die Passage erneut. »Spricht er davon, eine fremde Hinrichtung zu beobachten oder seine eigene?«
    »Ach so«, sagte sie da und fühlte sich jung und beschränkt. »Also, das weiß ich auch nicht so genau.« Die Frage war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, als sie Der Fremde im Vorjahr gelesen hatte. Auf Englisch.

Sarah
    1949–1961
    J eden Sonntag nach der Kirche fuhren sie nach Lexington, um Tante Paulie zu besuchen und sie in ihrem Salon Klavier spielen zu hören.
    »Nur die alten Kirchenlieder und die Klassiker.« Davon war George nicht abzubringen. »Musik, die unsere Stimmung hebt.«
    Als Mary Elizabeth sechs Jahre alt wurde – ihre Füße reichten noch nicht auf den Boden, und ihre ausgestreckte Hand war nicht annähernd breit genug, um eine Oktave zu greifen –, begann Paulie, sie zu unterrichten.
    »Keine Spelunkenmusik, hörst du?«, sagte George, bevor er seine Pfeife anzündete und auf die Veranda trat.
    Binnen kurzem konnte das Mädchen spielen. »Sie ist ein Naturtalent«, sagte Tante Paulie, und George kaufte ein gebrauchtes Klavier für zu Hause.
    »Dann kann sie später mal ihren Schülern Stunden geben«, erklärte er. Vom Tag ihrer Geburt an – endlich ein gesundes Kind – hatte er gesagt, sie solle eine Lehrerin werden, wie seine Mutter, wie seine Schwestern. Gottes Werk für eine anständige farbige Frau.
    Im Alter von zehn zog Mary Elizabeth sich allein an, putzte ihre Schuhe und polierte sie und flocht sich die Haare. Sie machte sich selbst das Frühstück und kochte eine Kanne Kaffee für ihre Mama und ihren Daddy. Sie erledigte allein ihre Hausaufgaben und übte Klavier.
    War sie ein normales Kind? Was kann schon normal sein, wenn es von ihr kam?, fragte sich Sarah. Je älter Mary Elizabeth wurde, desto mehr strengte sie sich an, ihrem Daddy zu gefallen. Und das war auch gut. Je älter ihr Kind wurde und je weniger es seine Mutter brauchte, desto schwerer fiel es Sarah, morgens aufzustehen. Es war, als hielte eine riesige Hand sie im Bett fest. Die Hand Gottes, vermutete sie, die sie nicht hochkommen

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