Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
Vom Netzwerk:
lassen wollte.
    Es lag daran, dass sie böse war. Weil sie Tag und Nacht an Robert dachte. Nicht so, wie sie ihn das letzte Mal gesehen hatte. Wenn er jetzt zu ihr kam, waren die Muskeln auf seinen Armen glatt und fest. Ihr stockte der Atem, ihre Lippen trockneten aus. Robert in seinem sauberen weißen Hemd. Die Linie zwischen Hals und Schulter, als er von der Veranda trat und sich zum Abschied umdrehte. Der Glanz der Spätsommersonne auf ihm, golden und warm. Der grüne Vorhang um die Straße herum, der ihn verschluckte.
    Sie wollte davon verschluckt werden. Wieder wollte sie mit Robert gehen. Wenn George nachts zu ihr kam, wandte sie den Kopf ab, um ihre Tränen zu verbergen. Und wenn sein Auf und Ab endlich aufhörte, drehte sie sich erleichtert weg. Sie stand auf und entleerte sich von ihm. Sie schrubbte sich sauber. Sie machte sich zu einer hohlen Hülle. Eines Tages, wenn die Hand Gottes sie nicht mehr zurück auf die Erde drückte, würde sie fort zu Robert fliegen.
    Bis dahin beobachtete sie, wie ihre Tochter aufwuchs. Tante Paulie beäugte sie eigenartig, wenn sie sonntags wegen Mary Elizabeths Unterricht bei ihr zu Besuch waren. Also fing sie an, das Notizbuch mitzunehmen, das Paulie ihr Jahre zuvor geschenkt hatte. Sie holte einen Bleistift heraus und tat, als schriebe sie Dinge hinein, und Paulie wirkte erleichtert und wandte sich wieder dem Klavier und dem Mädchen zu.
    Doch Sarah schrieb nur ein oder zwei Worte und hörte dann auf. Sie ließ die anderen glauben, sie schriebe eine Einkaufsliste oder ein Gedicht oder mache sich Notizen, was auch immer sie wollten. Für das, was sie sagen musste, gab es keine Worte. Es gab nur ihre alte Sprache, die Geräusche, die sie nachts machte. Ah-fort. Diiie. Ahll. Ahl-lai . Ihre Tochter wuchs heran und machte George Freude und brauchte sie nicht. Und sie sprach eine Sprache, die niemand kannte. Niemand außer Robert.
    An jenem Sommertag, als ein Nachbar sie keuchend und würgend in seiner Scheune fand, konnte sie ihm einfach nicht vernünftig erklären, dass sie das Seil hauptsächlich aus Neugier geknüpft hatte. Weil sie wissen wollte, wie es sich wohl anfühlen würde. Sie hatte nicht unbedingt darauf gehofft zu sterben – damals. Jetzt beobachteten alle Kirchgängerinnen sie mit echter Furcht. Und dieses Mädchen, die junge Frau, die Chopin und Ravel und I’ll Fly Away spielte? Sarah kannte sie kaum. George brachte das Mädchen zu einer Nachbarin, einer Frau aus der Kirche, als sie zu bluten anfing. Lass sie doch Mary Elizabeth erklären, was ihre Mama ihr am Abend vor ihrer Hochzeit erklärt hatte, dachte Sarah. Es gab eigentlich nichts zu sagen, um ein Mädchen auf all das vorzubereiten. Doch mit den Augen versuchte sie, ihrer Tochter noch mehr mitzuteilen: Lass dich nicht von den Gefühlen täuschen, die ein Mann in dir wecken kann.
    Ah. Sag-eeeh. Ah-fort. Ah-diiie.
    Mary Elizabeth, gehorsames Mädchen. Ihre Augen erwiderten die Besorgnis. Dann lagen ihre Hände auf Sarahs Schultern, schoben sie, führten sie zu ihrem Zimmer. »Komm, wir bringen dich nach oben, und du legst dich ein Weilchen hin, Mama.« George hatte ihr beigebracht, das zu tun, sobald Sarah anfing, die ihnen unverständlichen Worte zu sprechen. Wenn sie versuchte, das schwere Gewicht der Hand Gottes wegzustoßen. Wie das erstickende Gewicht ihres Ehemannes nachts.
    Es tat Sarah wirklich leid, dass sie so vielen Menschen über die Jahre so viele Sorgen bereitet hatte. Als ihr Daddy gestorben war, ein Jahr nach Mary Elizabeths Geburt, war sie beinahe erleichtert gewesen. Nie wieder in diese traurigen Augen sehen zu müssen, wie in zwei Wunden. Zwei Jahre später war auch ihre Mama tot, und zehn Jahre danach Tante Paulie. Sarah suchte bei ihrer Tochter nach Anzeichen für Kummer, aber falls Mary Elizabeth weinte, bekam sie davon nichts mit. Ab da fuhr George seine Tochter jeden Samstag nach Lexington, zum Unterricht bei jemandem, den Paulie von der Universität gekannt hatte.
    Nach ihrem Schulabschluss am Ende des Sommers packte Mary Elizabeth ihre Koffer für Berea, das College, das George für seine Tochter vorgesehen hatte, seit es im Jahre 1950 wieder seine Tore für schwarze Studenten geöffnet hatte. In jenem Herbst 1961 war Mary Elizabeth eine von einem Dutzend schwarzer Studienanfänger. Sarah schnürte es die Kehle zu, wenn sie daran dachte, und sämtliche Luft entwich plötzlich aus ihrer Lunge.
    »Du musst mitkommen und dir Mühe geben«, sagte George an dem Samstagmorgen zu ihr,

Weitere Kostenlose Bücher