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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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letzten Abschlussprüfung, der für Dr. Wendts Kurs, tauchte Mary Elizabeths Daddy auf dem Campus auf und rief sie in ihr Zimmer.
    Sie umarmte ihn flüchtig und fragte, warum er so früh gekommen sei. »Ich dachte, du holst mich erst morgen ab«, sagte sie. »Ich habe heute meine letzte Prüfung, in zwei Stunden.«
    »Wir mussten deine Mama wieder ins Krankenhaus bringen, Mary Elizabeth. Es wäre schön, wenn du heute schon mit nach Hause kämst.«
    Rasch packte sie ihre Tasche und schrieb Maze einen Zettel, und ihr Daddy wartete im Auto, während sie ihre Prüfung schrieb.
    Als sie später im Auto neben ihrem Vater saß und noch ganz aufgeregt war, weil sie wusste, dass sie bei dem Test gut abgeschnitten hatte, spielte sie mit dem Gedanken, von ihrer Bewerbung für die Universität von Chicago zu erzählen. Zuerst aber erkundigte sie sich nach ihrer Mama. Er habe sie drei Tage zuvor im Keller der Kirche gefunden, sagte ihr Daddy. An einer verknoteten Wäscheleine zappelnd und würgend.
    Als Mary Elizabeth ihre Mutter schließlich sah, war sie bereits aus dem Krankenhaus entlassen und in das örtliche Heim verlegt worden, das jeder in der Gegend als das Farbigenheim kannte. Dort wurde sie jeden Tag von ihrer Sandkastenfreundin Clarisa Pool besucht. Clarisa war unverheiratet geblieben, lebte nun in einem kleinen Haus in Stanford und arbeitete als Schwester im Krankenhaus von Richmond. So hatte sie erfahren, was seit ihrer gemeinsamen Kindheit in der Black Pool Road außerhalb von Stanford mit Sarah Cox geschehen war.
    Da sie kein Auto hatte, um ihre Mama zu besuchen, wohnte Mary Elizabeth den Großteil der Weihnachtsferien über bei Clarisa. George Cox fuhr hin, wann er konnte; er müsse sich zu Hause um einiges kümmern, sagte er. Nach dem Gottesdienst am Weihnachtstag, an dem teilzunehmen Mary Elizabeth ablehnte, fuhr er mit einem Pullover für Mary Elizabeth und einer Kette für ihre Mutter nach Stanford.
    Mary Elizabeth packte das Geschenk für ihre Mutter aus und befestigte die Kette dann um ihren Hals. »Ist sie nicht hübsch, Mama?«, fragte sie. Aber Sarah ließ nicht erkennen, ob sie es wahrnahm.
    Das Farbigenheim war nicht ganz so schrecklich, wie Mary Elizabeth erwartet hatte. Es war sauber und sonnenhell, und auf jedem Zimmer gab es zumindest einige Leute, die wach genug waren, um Karten zu spielen oder Geschichten zu erzählen, obwohl die Geschichtenerzähler im Allgemeinen mit sich selbst zu reden schienen. Und obwohl es sauber war, roch es doch in jeder Ecke nach Alter – diesem halb säuerlichen, halb süßlichen Kurz-vor-Verwesungs-Geruch, den Mary Elizabeth von der Pflege der gebrechlichen alten Mutter einer der weißen Frauen kannte, für die sie im vorangegangenen Sommer geputzt hatte. Da machte die Hautfarbe keinen Unterschied.
    Sarah Cox war gute dreißig Jahre jünger als alle anderen in diesem Heim, aber man sah es ihr nicht an. Ihre Haare, die sie immer sorgfältig geflochten und dezent im Nacken festgesteckt hatte, waren kraus und grau geworden, und ihre Haut trocken und aschfahl. Sie war dünner als früher, was kaum möglich schien, und als Mary Elizabeth sie zum ersten Mal sah, musste sie vor die Tür gehen und weinen.
    Sie schien ihre Tochter nicht zu erkennen. Jedes Mal, wenn sie zu Besuch kamen, schob Clarisa Pool Mary Elizabeth auf ihre Mutter zu. »Hier ist dein Mädchen, Sarah«, rief sie. »Hier ist dein wunderschönes Mädchen, extra deinetwegen vom College angereist.«
    Manchmal nickte Sarah kaum merklich, bevor sie ihre glasigen Augen wieder dem Taschentuch zuwandte, das sie auf dem Schoß hielt und das sie unablässig zu- und aufknotete, immer wieder.
    Am letzten Tag ihrer Weihnachtsferien stand Mary Elizabeth im Flur vor dem Zimmer ihrer Mama, und ihr Daddy erklärte ihr, dass ihre Mama eine Weile dort bleiben würde. »Ich kann mich nicht allein um sie kümmern. Ich habe Angst, sie allein zu lassen.« Von Mary Elizabeths Angebot, zu Hause zu bleiben und sie zu pflegen, wollte er nichts hören. Abwehrend hielt er die Hand hoch. »Du musst in Berea weiterstudieren«, sagte er. Sie erzählte nichts von ihrer Bewerbung für das Stipendium in Chicago, an der sie nun seit Wochen nicht gearbeitet hatte.
    Als Clarisa Pool später Feierabend hatte, kam sie und half Mary Elizabeth dabei, Sarah ihr Abendessen zu füttern. Als sie Sarah schließlich ins Bett gebracht hatten, gingen sie zu Fuß durch einen bitterkalten Wind zurück zu Clarisas Haus.
    »Was in Gottes Namen ist mit ihr

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