Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Sie müsse noch etwas länger in dem Heim bleiben, sagte George Cox.
Mary Elizabeth fand das Büchlein ganz hinten in der Kommodenschublade ihrer Mama zwischen der Unterwäsche und den Strümpfen. Der alte braune Lederumschlag war fleckig und angeschimmelt, und die Seiten waren leer bis auf einige Bleistiftkritzeleien ganz vorne und vier Zeilen kurz vor dem Ende, jede davon auf einer eigenen Seite mit zittriger Schrift notiert:
Ich war
Ich war dort
Ich bin
Ich bin verloren
Auf der Innenseite des Umschlags stand der Mädchenname ihrer Mutter, Sarah Henry. Mit Tinte geschrieben, in einer ordentlicheren Schrift, die für Mary Elizabeth aussah wie die ihrer Tante Paulie.
Während ihres ersten Quartals an der Universität von Chicago holte Mary Elizabeth an manchen Abenden ihren Musselinbeutel mit den gestohlenen Gegenständen aus der Schublade und leerte den Inhalt, ein Stück nach dem anderen, auf ihr Bett in dem sterilen Wohnheim, in dem sie ein Einzelzimmer hatte. Später setzte sie ihr Ritual auf ihrem Bett in einer stickigen Mansarde im obersten Stock eines alten viktorianischen Hauses auf einer baumbestandenen Straße in Hyde Park fort, in das sie um die Weihnachtszeit jenes Jahres gezogen war.
Das Haus gehörte Octavia Price, der Frau, die Mary Elizabeths Einführungskurs in Ethnologie in jenem Herbst unterrichtete und die ein besonderes Interesse an ihr zeigte. Sie war eine weltgewandte, kultivierte und sehr intelligente schwarze Frau, und im Gegensatz zu den meisten anderen an der Chicagoer Universität kleidete sie sich in kräftige Farben und lange, fließende Tücher. Ihre Lippen und Fingernägel waren immer leuchtend rot, und ihre Stimme war tief und dröhnend, ihr Lachen laut und ausgiebig. Sie hatte die ganze Welt bereist und war genau wie Tante Paulie nach Mary Elizabeths Vorstellung in jungen Jahren gewesen sein musste. Das sagte sie Octavia schüchtern eines Nachmittags in ihrem Büro, als sie ein Referat besprachen, an dem Mary Elizabeth arbeitete. Octavia warf den Kopf zurück und stieß ein heiseres Lachen aus, als sie von einer Tante in Paris in den Zwanzigern hörte, und ihre Augen leuchteten. »Erzählen Sie mir mehr von dieser wilden Tante«, sagte sie.
Octavia war dafür bekannt, in ihrem großen, baufälligen Haus nahe der Universität lärmende Abendessen für ihre Freunde und einige ihrer Lieblingsstudenten zu veranstalten. Man munkelte, sie sei dreimal verheiratet gewesen, einmal davon mit einem weißen Mann. Ihr derzeitiger Gelegenheitsliebhaber war zehn Jahre jünger als sie, ein Jazzschlagzeuger namens Marcus Dyer, einer von mehreren in ihrem Haus lebenden Untermietern.
Ab Dezember wohnte auch Mary Elizabeth dort, mietfrei. Im Gegenzug fütterte sie Octavias unzählige Katzen und goss ihre Pflanzen, wenn sie verreist war. Sie plante, während der Weihnachtsferien wegzufahren, gleich nach Mary Elizabeths Einzug, und Mary Elizabeth sagte, sie bliebe gern im Haus.
Den gesamten Herbst über hatte sie Briefe von ihrem Vater erhalten, die voller Bibelstellen und überflüssiger Ermahnungen waren, sich anzustrengen und ihr Bestes zu geben. Außerdem erwähnte er wiederholt eine bestimmte Witwe aus seiner Kirche – Iris Jones. Iris war vorbeigekommen, um die Wohnzimmervorhänge zu waschen; Iris kümmerte sich um den Großteil der Wäsche; Iris hatte ihm einen Geburtstagskuchen gebacken. Wenn Mary Elizabeth die Briefe ihres Vaters las, spürte sie den längst verschwundenen Schmerz zwischen den Schultern zurückkehren.
Pflichtschuldig schrieb sie ihm zurück, und jede Woche schickte sie zudem ihrer Mutter einen kurzen Brief an die Adresse von Clarisa Pool. Gelegentlich antwortete Clarisa (»Deine Mama hat jetzt ein schönes sonniges Zimmer. Neue Kleidung braucht sie eigentlich nicht. Sie lässt dich lieb grüßen«), aber ihre Mama schrieb nie selbst. Sie würde ihre Abwesenheit zu Weihnachten gar nicht bemerken, sagte sich Mary Elizabeth.
Maze schrieb ihr ebenfalls – lange, weitschweifige Briefe, die zwischen Glückseligkeit und Kummer und Angst hin und her schwankten. Sie hätten eine passable Ernte gehabt und viele Tomaten eingemacht. Schwester Georgia wirke schwächer als je zuvor, weigere sich aber, zum Arzt zu gehen. Der November sei kalt und das Shaker Inn schwer zu heizen, doch immerhin gelinge es ihnen, die Schwesternwerkstatt für sie warm zu halten. Was halte Mary Elizabeth von diesem Krieg in Asien? Sie mache sich Sorgen um Harris und Daniel und Phil. Vista habe sich
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