Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Marthie hatte ihre Abwesenheit nicht gut überstanden. Löcher im Dach der Hütte waren nicht repariert worden, und noch Ende Mai humpelte sie wegen ihrer Wintergicht. Als Vista sie fragte, was um Himmels willen sie mit dem Geld angestellt habe, das Vista jeden Monat geschickt hatte, wenn sie davon nicht wenigstens einen Nachbarsjungen angeheuert habe, um das Dach zu flicken, zeigte Grandma auf einen Umschlag in einem Einmachglas neben dem Waschtisch. Darin befand sich fast alles, was Vista ihr hatte zukommen lassen.
Sie tat Vistas Verärgerung mit einer Handbewegung ab und ließ sich langsam und schmerzgeplagt auf ihrem Schaukelstuhl nieder. »Ich brauch nicht so viel, Visitor, behaltet ihr das Geld lieber für euch.« Sie blieben bis in den Sommer bei ihr. Vista brachte den Garten ihrer Großmutter auf Vordermann und beauftragte zwei Jungen aus dem Ort damit, das Dach und mehrere faulige Balken zu reparieren.
Zwar war Grandmas Gesicht nun meistens verzerrt – ob vor Schmerz oder vor Verwirrung konnte Vista nie genau sagen –, doch was ihren Blick immer weicher machte, war der Goldschopf ihrer Urenkelin. Und Maze schien tatsächlich, falls das möglich war, noch goldener zu werden. Sie liebte die Berge, und die Sonne über Harmony Ridge machte ihre Sommersprossen noch niedlicher und ihre blonden Locken noch strahlender. Als Vista sie fragte, ob sie Pleasant Hill vermisse, lautete ihre Antwort schlicht: »Ja, schon. Aber hier ist es auch schön.«
Das alte Grammophon stand noch da, auf seinem Tischchen in der Küchenecke, ungenutzt seit Vistas und Maze’ Abwesenheit. Abends legten sie ein paar der alten Platten auf, hauptsächlich schwungvolle Banjo- und Fiddle-Stücke wie Cindy und Foggy Mountain Breakdown . Manchmal gesellten sich Berthis Dyers Zwillingsenkelsöhne dazu, schlaksige Vierzehnjährige in alten Latzhosen und barfuß, und Vista brachte ihrer damals schon anmutigen Tochter und den nur aus Armen und Beinen bestehenden Zwillingen ein paar der Tänze bei, an die sie sich von früher erinnerte.
Sie wären vielleicht sogar länger geblieben, doch es gab keine Arbeit in Torchlight. Und obwohl sie es nur sehr ungern zugab, vermisste Vista die Sanftheit der Landschaft im Westen. Sie konnte sich an die Trostlosigkeit des Ortes einfach nicht gewöhnen. Menschen, ganze Familien, lebten in Zweizimmerhütten gequetscht. Glasscherben und rostige Dosen übersäten die staubige Straße durch das Städtchen. Sie erfuhr, dass die mobile Bücherei Torchlight nicht mehr anfuhr, seit die alte Tante Dawson, die einzige Nutzerin am Ort, im vorigen Sommer gestorben war. Und die wenigen Männer im Ort waren entweder sehr jung oder sehr alt. Niemand wusste das Geringste darüber, was mit Nicklaus Jansen passiert war. Inzwischen war es Vista gleichgültig, wer hinter ihrem Rücken über sie lachte, wenn sie fragte.
Als Grandma Marthie starb, in ihrem Schaukelstuhl auf der Veranda, wo sie den Augustnachmittag verschlafen hatte, war es Mazes Idee, zurück nach Pleasant Hill zu gehen. »Komm, wir besuchen Schwester Georgia«, sagte sie, als sie Grandma Marthies wenige Habseligkeiten zusammengepackt hatten.
Vista sah ihre Tochter an. Jedenfalls hatte sie keinen besseren Vorschlag. Sie stellte die letzte Kiste in den Kofferraum von Shade Nixons altem Dodge, den er ihr für ein Butterbrot verkauft hatte.
Dann schlug sie den Deckel zu. »Also gut.« Sie wischte sich den Staub des Wagens von den Händen. »Fahren wir zurück und reden mit Schwester Georgia.« Eine Verrückte zu pflegen war scheinbar das Einzige, was ihr noch übrig blieb.
Pilger und Fremde
1963
I n dem Musselinbeutel, den Mary Elizabeth im Herbst mit nach Chicago nahm, waren noch andere Dinge: eine von Tante Paulies langen Spitzenunterhosen, die Mary Elizabeth erst zur Seite gelegt und dann in ihrer Kommodenschublade versteckt hatte, als sie damals die Truhe ihrer Tante vom Dachboden geholt hatten, um ein Kleid für Maze zu suchen. Mary Elizabeth stellte sich vor, dass Tante Paulie sie damals in Paris von einem ihrer vielen Bewunderer bekommen hatte. Außerdem zwei unterschiedliche Manschettenknöpfe ihres Daddys. Ein angelaufenes Kreuz von einer Kette von Clarisa Pool. Und ein kleines, fast leeres Notizbuch, das ihrer Mutter gehört hatte. Mary Elizabeth hatte es an einem sonnigen Junitag gefunden, als ihr Daddy sie bat, ein paar leichte Kleidungsstücke für ihre Mama in ihrem Heim in Stanford zu packen. Sarah ging es nicht besser als um die Weihnachtszeit.
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