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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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die alte Mary Elizabeth, die Maze so gern bei sich in Pleasant Hill gehabt hätte. Das wollte sie Maze als Antwort auf ihren Brief mitteilen, konnte es aber nicht. Also schrieb sie »Herzlichen Glückwunsch, Maze!« auf ein Blatt Papier. Darunter: »Ich wünsche dir und Harris alles Gute.« Sie faltete den Zettel, adressierte einen Umschlag und steckte ihn am nächsten Tag in die Post.

Pilger und Fremde
    1964
    I m März erhielt Mary Elizabeth erneut Post, die sie nicht ignorieren konnte – dieses Mal ein Telegramm von ihrem Daddy, in dem er ihr mitteilte, dass ihre Mama tot sei.
    Irgendwie hatte Sarah ein Fläschchen Phenobarbital-Tabletten in die Hände bekommen, erzählte der Reverend Cox Mary Elizabeth, als er sie am Bus abholte, und so gelang es ihr, ihrem einsamen Leiden ein für alle Mal ein Ende zu setzen. Außer Mary Elizabeth, Reverend Cox und Clarisa Pool nahmen an der stillen Beerdigung in Stanford nur noch der Verwaltungschef des Farbigenheims teil, zwei entfernte Cousinen von Mary Elizabeths Daddy – beides ältere Frauen, die Mary Elizabeth noch nie gesehen hatte und nach der Beisetzung auch nie wieder sah – und Iris Jones.
    Mary Elizabeth hasste ihren Daddy an diesem Tag, hasste seine Traurigkeit, die sie als einstudiert empfand, seine übertriebene Höflichkeit den zwei Cousinen gegenüber, seine selbstgefällige Bevormundung des jungen Baptistenpredigers aus Stanford, der den Gottesdienst hielt. Besonders die Trauerfeier hinterließ einen bitteren Nachgeschmack bei ihr. Was hatten all diese Bibelzitate ihrer Mama je genützt? Was konnten sie jetzt noch nützen?
    Auf dem Friedhof, wo ihr Daddy sich die tränenden Augen wischte und Clarisa Pool sich wiederholt die Nase putzte, vergoss Mary Elizabeth keine Träne. Als ihr Daddy dann nach Richmond zurückfuhr, nachdem er sie fest umarmt und ihr mehrere Dollar in die Hand gedrückt hatte, ließ sie sich auf das Sofa in Clarisa Pools Wohnzimmer fallen. Und dort blieb sie die nächsten zwei Tage, im Pyjama, und starrte in Clarisas winzigen Schwarzweißfernseher. Doch noch immer weinte sie nicht.
    Schließlich, an dem Tag, als ihr Daddy sie zum Frühstück abholen und dann zum Busbahnhof bringen sollte, gab Clarisa ihr eine kleine Papiertüte mit Sachen ihrer Mutter – einige Spitzentaschentücher, ein Paar Rubinohrringe, Fotos von Mary Elizabeth als Säugling und von ihrer Mama und ihrem Daddy am Hochzeitstag. Mary Elizabeth betrachtete die Bilder und versuchte in ihren ausdruckslosen Kinderaugen oder in den ernsten ihres Vaters und den scheuen, undurchdringlichen ihrer Mutter irgendeinen Sinn in dem Ganzen zu entdecken.
    Clarisa musterte sie eingehend. »Eine Zeitlang waren sie glücklich, Mary Elizabeth.« Sie nahm die immer noch um die Beine der jungen Frau gewickelte Steppdecke und faltete sie zusammen. »Dein Daddy war gut zu ihr. Er hat sie so geliebt, wie es ihm möglich war, genau wie du. Und jetzt tust du keinem einen Gefallen, wenn du den ganzen Tag hier in meinem Wohnzimmer liegst und den Fernseher anstarrst.«
    Sie nahm Mary Elizabeths Hand und zog sie in eine aufrechte Position hoch, dann setzte sie sich neben sie. »Sie würde wollen, dass du weitermachst, das weißt du«, sagte sie. »Du musst alles tun, was du dir vorgenommen hast.«
    Zehn Stunden später, unterwegs auf einer flachen und endlosen Landstraße durch das nördliche Indiana, taumelte Mary Elizabeth im Greyhound Bus nach hinten, kippte den Inhalt der Papiertüte, die Clarisa ihr gegeben hatte, auf einen leeren Sitz und übergab sich in die Tüte. Als sie um neun Uhr abends in Octavias Haus ankam, schien niemand da zu sein.
    Stunden später wachte sie in völliger Dunkelheit auf, weil Marcus Dyer ihr die Oberschenkel und den Bauch streichelte. »Psst«, machte er, als sie aufschreckte, und schob ihr eine Hand zwischen die Beine. Da zog sie ihn verzweifelt an sich, sagte »Komm« und dann noch einmal drängender » Komm !«, bis er endlich in ihr war und sie die Augen schließen und in seine Schulter beißen konnte, um nicht laut aufzuschreien. Sie wünschte sich nichts mehr, als für immer so, von allem anderen so losgelöst sein zu können.
    Am Morgen nahm sie ein Bad, ging zurück in ihr Zimmer und leerte den Musselinbeutel auf dem Bett aus, legte die Gegenstände nebeneinander, zählte sie durch, berührte jeden der Reihe nach. Dann steckte sie alle zurück in die Tasche, außer zweien: Mazes Entwurf für die Babydecke und das Notizbuch ihrer Mama. Diese beiden warf sie

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