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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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in Stanford, hatte sie allerdings mit keinem Wort erwähnt. Oder das, was Clarisa Pool ihr um die Weihnachtszeit erzählt hatte. Aus irgendeinem Grund konnte sie Maze nichts davon sagen. Sie würde ihre ruhigen Atemzüge nicht ertragen können und ihr Schweigen oder ihre Flut von Fragen oder ihr Mitgefühl.
    Sie war wohl kaum ein reiner Mensch, dachte Mary Elizabeth. Manchmal, wenn sie an diesem Nachmittag Schwester Georgias Blick auf sich bemerkte, hatte sie das unheimliche Gefühl, dass die alte Frau wusste, dass Mary Elizabeth Geheimnisse hatte. Alle in Pleasant Hill sahen sie so an – selbst Maze. Als glaubten sie vielleicht, sie bildete sich zu viel auf sich ein mit ihren großen Plänen von der Chicagoer Universität. Oder – im Fall von Maze und Schwester Georgia –, als hätten sie beinahe Mitleid mit ihr.
    »Ich verstehe nicht, warum du so verschlossen geworden bist«, hatte Maze zu ihr gesagt, als sie am Ende des Jahres ihr Wohnheimszimmer ausräumten. Und Mary Elizabeth hatte gedacht: Tja, das kann ich mir gut vorstellen.
    Harris könnte sie einmal zu Besuch nach Richmond fahren, hatte Maze gesagt, nachdem sie sich in Pleasant Hill eingerichtet hätten. Wie wäre das? Doch Mary Elizabeth hatte gesagt, nein, eher nicht. Damit Maze sie in Ruhe ließ, hatte sie schließlich eingewilligt, selbst an einem Tag im Juni mit dem Bus nach Pleasant Hill zu fahren.
    Nur Vista, die Mary Elizabeth an der Bushaltestelle abgeholt und nach Pleasant Hill gefahren hatte, schien mit ihren Plänen einverstanden zu sein.
    »Gut für dich, Mary Elizabeth«, sagte sie, als sie vor der Schwesternwerkstatt parkte. »Du wirst was aus dir machen. Im Gegensatz zu denen da.« Sie deutete hinter sich auf das alte Shaker Inn. »Der Himmel weiß, was aus ihnen werden soll. Wahrscheinlich haben sie bald einen Haufen Kinder, und das war’s dann.«
    Dann schüttelte sie den Kopf, zündete sich eine Zigarette an und winkte ab, als Mary Elizabeth anbot, ihr einen Dollar für das Benzin zu geben. »Ruf mich an, wenn er den Pick-up nachher immer noch nicht zum Laufen gekriegt hat«, sagte sie. »Ich sorge dafür, dass du deinen Bus erwischst.« Und damit fuhr sie weg, ohne einen Gruß an Maze oder Schwester Georgia.
    Mary Elizabeth blieb nur ein paar Stunden, und den Großteil dieser Zeit verbrachte sie mit Maze, die sie durch das modrige alte Shaker Inn führte und ihr von ihren Plänen für das Haus sowie den Küchengarten vor dem Wohngebäude der Hauptfamilie und eine Holzwerkstatt für Harris in der ehemaligen Bruderwerkstatt erzählte. Sie saßen an einem Tisch im Schatten hinter dem Gasthaus, neben einem verwilderten Blumengarten. Die anderen – Harris, Daniel, Phil und Sarabeth – kamen nacheinander kurz vorbei, um Mary Elizabeth höflich zu begrüßen, und gingen dann wieder an ihre Arbeit zurück.
    Als es Zeit für Mary Elizabeth wurde, zum Busbahnhof in Harrodsburg zu fahren, liefen sie zur Schwesternwerkstatt, damit Mary Elizabeth sich von Schwester Georgia verabschieden konnte. Während Maze danach Harris’ Pick-up holte und Schwester Georgia sich oben in ihrem Zimmer ausruhte, öffnete Mary Elizabeth die Truhe hinter Schwester Georgias Webstuhl. Darin fand sie einen Stapel alter Shaker-Bücher, einschließlich des Hauptbuchs der Schwestern, das sie noch aus dem vergangenen Sommer kannte. Sie blätterte durch die Seiten und lachte leise, als sie das Rezept »Für Schwestern, die gefehlt haben« entdeckte. In einer Ecke der Truhe fand sie, in Seidenpapier eingewickelt, das steife Häubchen, das Georgia ihr im letzten Sommer gezeigt hatte und das, so hatte sie damals erzählt, sie sich immer als das von Schwester Daphna vorgestellt hatte. Bevor Mary Elizabeth alle Bücher zurücklegte und den Truhendeckel zuklappte, nahm sie – aus Gründen, die ihr selbst unerklärlich waren – das Häubchen aus dem Papier und steckte es in ihre Handtasche.
    Auf einem Tisch neben dem Webstuhl lag vor einer Reihe von Spulen und einem großen Korb mit Wolle ein Muster, das Maze für den schmalen Stoffstreifen skizziert hatte, an dem sie gerade auf dem Webstuhl arbeitete. »Kinderdecke« stand in der Ecke. In dem Moment hörte Mary Elizabeth Harris’ Pick-up. Sie lief zur Tür, blieb aber stehen und hastete noch einmal zurück zum Tisch. Dann schnappte sie sich den Entwurf, faltete ihn und steckte ihn ebenfalls in die Handtasche. Vistas wegen, sagte sie sich, während sie in den Pick-up stieg.

Visitor
    1947
    K einer der Taylors wollte am Abend

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