Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Partnerin Vista Combs.
Das Merkwürdige an den Combses war, dass sie immer nur ein Kind bekamen, bevor das Unglück hereinbrach. Zumindest seit Morris und Ivy Combs, Grandmas Daddy und Mama, ihre kleine Marthie bei einer Cousine gelassen hatten, weil sie ein Stück Land im Süden besichtigen wollten, von dem Morris im Sommer zuvor gehört hatte, und bei einem Hochwasser starben.
»Weggehen bringt nichts«, pflegte Grandma Marthie zu sagen, nachdem sie ihre Eltern und ihre Tochter innerhalb eines halben Lebens verloren hatte. Natürlich hätte man einwenden können, dass sie ihren Mann aus genau dem entgegengesetzten Grund verloren hatte: weil er nicht weggegangen war, sondern in den Zechen gearbeitet hatte wie jeder andere Mann, den er und Marthie kannten. Dennoch, dabei blieb Grandma Marthie, war es noch niemandem gut bekommen, dieses friedliche Tal in einem Knick des Gebirges zu verlassen, soweit sie das beurteilen konnte. Und Vista hielt sich an diesen Grundsatz, zumindest eine Zeitlang.
Möglich, dass in einer Hütte mit fünfzehn anderen Kindern aufzuwachsen und – wenngleich sie wie ein Familienmitglied behandelt wurde – wie alle anderen unter dem Mangel an Nahrung, Kleidung und Wärme zu leiden Marthie noch eine weitere Lektion erteilt hatte. Denn abgesehen davon, dass sie nicht fortzugehen plante, wollte sie auch kein zweites Mal heiraten und eine neue Familie gründen. Auf dem einen Bild, das sie von Grandpa besaß, dem gestrengen Hochzeitsporträt, überragte Grandma Marthie, eine starke, hochgewachsene Frau mit einem langen Gesicht, das in Vistas Augen immer müde und traurig wirkte, ihren Ehegatten, einen drahtigen Mann mit einem Anflug von Verschmitztheit um die Mundwinkel. Er habe die Fiddle gespielt, erzählte Grandma Marthie Vista, und sie mit Liedern und albernen Scherzfragen umworben, die sie wider Willen zum Lachen brachten.
Und, ja, gut, natürlich habe sie ihn geliebt, räumte sie ein, wenn Vista nicht lockerließ, genau wie sie ihre impulsive, ungestüme Tochter geliebt habe (»ganz ihr Daddy, durch und durch«, sagte Marthie dann immer). Aber Liebe bedeute eben Verlust – das eine gebe es nicht ohne das andere, sagte Grandma Marthie, und das sei in Memphis oder New Orleans oder irgendeiner Fabrikstadt in Indiana oder Ohio ganz genauso wie in einem kleinen Tal in Kentucky. Und so war für sie im Alter von vierzig Jahren, als ihre Gelenke beim ersten Anzeichen von Kälte zu schmerzen begannen und sie nach dem Anstieg über den Harmony Ridge schwach und außer Atem war, eine einzelne Enkelin, schien es, genug.
Im Taumel jener ersten Tage mit Nicklaus Jansen war Vista überzeugt, sie würde das Muster als Erste durchbrechen. Sie würden einen ganzen Stall voll Kinder bekommen, so viel war sicher. Sie würden Grandmas Hütte instand setzen und zusätzliche Räume anbauen, und ihre Kinder würden draußen im Sonnenschein in den grünen Tälern spielen, und sie würden das Abc lernen und all die Bücher lesen, die Miss Drury zurückgelassen hatte. Und ihr Vater würde ihnen das Gitarrespielen beibringen und Vista das Singen, und sie wären laut und fröhlich, alle miteinander, und würden draußen im Wind tanzen, der vom Bergkamm über der Hütte herabwehte. Die Hügel wären immer sommergrün und üppig, morgens würden die rosa Blüten des Judasbaums sich aus dem Dunst recken, und all ihre goldenen Köpfe wären voller Musik und Liebe.
Wer konnte bei einem zärtlichen und goldenen Liebhaber wie Nicklaus Jansen anders empfinden? Er war so sanft wie der frühe Morgen, und als er sie das erste Mal küsste und im Arm hielt, verstand sie nicht mehr, wie sie ihrer Mutter wegen die Liebe je für etwas Schmutziges halten konnte, wie sie ihr je so misstrauisch und ängstlich gegenüberstehen konnte. Seine weichen Locken strichen wie Gänsedaunen über ihre Wange, und er sagte ihr – und sie merkte, dass er es ernst meinte –, dass sie die Erste sei: dass er noch nie einem Mädchen begegnet sei, das so lieb und rein war wie sie.
Als sie von der Schwangerschaft erfuhren, arrangierten sie eine stille Hochzeit in der Red Lick Church. Er wurde von seinen Cousins begleitet, sie von Grandma Marthie. Es war Frühherbst, und Vista flocht sich wilde Astern in die dunklen Locken. Als der Pfarrer sie zu Mann und Frau erklärte, lächelte Nicklaus sie an, doch seine Augen sahen glasig aus, fand sie. Später, in der Hütte in ihrem Hochzeitsbett, schloss er die Augen, die immer noch abwesend wirkten. Es
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