Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
Ohio, mit der knallgelben, sonnendurchfluteten Küche, wie Vista sie sich vorstellte – keine struppigen Bäume oder felsigen Hänge, die auch nur einen einzigen Lichtstrahl aussperrten.
Grandma Marthie hatte keine Einwände dagegen gehabt, Vista zur Schule zu schicken, da meistens nur sie beide zu Hause waren und es nicht mehr viel zu tun gab – nur ein kleines Gemüsebeet zu bestellen und die Legehennen zu füttern. Als also Miss Drury Badgett mit einem Paar Schuhe auftauchte, die dem Kind genau passten, und seine dunklen Locken bürstete und ein großes Gewese um die hübschen Sommersprossen machte, fiel Grandma Marthie kein Grund ein, sie nicht gehen zu lassen.
Damals war Vista acht und hatte nicht die geringste Ahnung vom Alphabet, ganz zu schweigen davon, was Lesen bedeutete. Und es war eine bunt zusammengewürfelte Truppe, diese erste Klasse in Miss Drurys Schule in Torchlight (genau genommen nur ein Nebenzimmer der Free Light Church). Sechs Kinder aus dem Tal, alle jünger als Vista – kein Kind in ihrem Alter konnte zu Hause entbehrt werden –, und Miss Drury säuberte jedes einzelne und sorgte dafür, dass sie alle Schuhe hatten, um zur Schule zu laufen. Und dann brachte sie ihnen das Lesen und Schreiben bei. Als Vista zwölf war, war die Schule auf fünfzehn Schüler angewachsen, und sie hatte den Auftrag, den Kleineren beim Abc zu helfen.
Da war sie glücklich, empfand ihre eigene Wichtigkeit und die allgegenwärtige Sanftheit von Miss Drurys Augen und Händen als tröstlich. Wenn sie nicht in der Schule zu tun hatte, wanderte sie auf der Suche nach hübschen Fleckchen durch die Hügel, um sich mit dem neuesten Buch, das Miss Drury ihr gegeben hatte, hinzusetzen. Sie zwängte sich durch Dornengebüsch, das sie kaum wahrnahm, verliebt in den Vogelgesang und die süße Bergluft und das Lesen, bei dem alles um sie herum so viel lebendiger zu riechen und zu klingen schien. Deshalb hatte sie immer noch blaue Flecke und Schrammen – in einem Alter, in dem Mädchen eigentlich längst über solche Sachen hinaus sein sollten, das stimmte schon, doch sie bemerkte es nie, und ganz bestimmt störte es sie nicht.
Aber dann ging Miss Drury fort, als Vista vierzehn war, und ihr Blick wurde abwesend und traurig. Zwar drehte sich mancher Junge wegen ihrer schwarzen Locken (jetzt immer gebürstet) in Kombination mit den überraschenden Sommersprossen, einem bezaubernden Grübchenlächeln und einer noch bezaubernderen Singstimme in der Kirche durchaus nach ihr um, obwohl sie gesagt hätte, dass sie es kaum bemerkte. Doch die meisten wussten bereits, dass es keinen Zweck hatte, als Vista frauliche sechzehn, ihre geliebte Lehrerin weggezogen und ihre Mama tot war. Mittlerweile zeigte sich Vistas Lächeln überhaupt nur noch selten.
Eines, und nur eines, konnte Vista aufheitern, als sie zur Frau heranwuchs und selbst ihre geliebten Bücher nicht mehr ausreichten, da es ja niemanden mehr gab, um darüber zu reden. Und dieses eine war Musik und Tanzen. Niemals verpasste sie ein Singwochenende der Kirche oder einen Tanzabend, und dank einer Grandma, die ihr die Teilnahme an beidem jederzeit erlaubte, kam ihr nie in den Sinn, dass zwischen diesen Leidenschaften ein Widerspruch bestehen könnte.
Jungen liebten es, mit ihr zu tanzen, obwohl sie nicht erklären konnten, warum. Vista vermittelte nie das Gefühl, es habe auch nur irgendetwas zu bedeuten, wie sie ihnen in die Augen blickte oder sich von ihnen herumwirbeln ließ. Bei anderen Mädchen konnte eine solche Berührung oder Bewegung schon mal ein Vorspiel zu anderen Vergnügungen sein, aber Vistas Interesse galt einzig der Musik. Und wenn sie tanzte, verlor sie sich darin, genau wie in den alten Balladen und Kirchenliedern. Sie sang Amazing Grace und Down in the Valley , als meinte sie jedes Wort davon. Text und Musik berührten sie tief im Inneren, und die Jungen bei den Tanzabenden und Singwochenenden waren schlau genug zu begreifen, dass – im Gegensatz zu anderen Mädchen – für Vista Combs ausreichte, von Worten und Musik berührt zu werden.
Doch dann trafen die jungen Schweden ein. Sie kamen, um in der Holzwirtschaft zu arbeiten, die gerade außerhalb von Torchlight entstand und den Platz von König Kohle einnahm, seit der gesamte unterirdische Reichtum, den das Land ausspucken konnte, fort war. Sie waren die Enkel von Siedlern, die als Bauern in den Westen gekommen waren – Anhänger der Kirche der Brüder, sagte jemand –, doch jeglicher religiöse
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