Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
sprang Sarah Cox aus dem Bett, raffte den Morgenmantel um die Taille und rannte die Treppe hinunter, um den Deckel des Instruments zuzuschlagen. Fest zuzuschlagen.
Da hatten sie monatelang etwas zu reden.
Sie war stolz auf Mary Elizabeth, als sie nicht für diese Ansammlung von Weißen spielen wollte, dann aber traurig, als das Haus still wurde und sich eine Staubschicht auf das Klavier legte. Es überraschte sie selbst, dass sie froh war, diese junge Freundin zu sehen, die zum Tee kam, die mit dem seltsamen Namen, die ihr all diese Fragen stellte.
Warum fragst du mich das alles?, hatte sie zu der jungen Frau sagen wollen, obwohl sie versuchte, zu lächeln und die kürzestmöglichen Antworten zu geben. Warum fragst du nicht meine Tochter? Aber Mary Elizabeth kannte ja die Antworten nicht. Sie wusste fast nichts über Sarahs Leben vor ihrer Geburt. Dafür hatte George gesorgt. Besser, wir beschützen sie vor alldem, hatte er gesagt.
Deine Freundin kann doch hier übernachten! Wir suchen ihr ein Kleid aus Paulies Sachen – lass uns die alte Truhe herunterholen. Und du fahr ruhig mit ihr zu diesem Tanz, aber sicher!
Sie versuchte, so zu sein, wie die Mutter einer College-Studentin sein sollte. Aber Mary Elizabeth sagte Nein, sie bliebe lieber zu Hause. Zu Hause bei ihr. Bei ihr und den ganzen Ameisen die durch das Haus krochen und hofften, alles über sie zu erfahren.
Wieder Ärger wegen der Musik. Das hätte ihre eigene Mama gesagt. Dann dieser Tee, den das Mädchen nach Hause brachte, was auch immer das gewesen sein mochte. Wie schön hatte er ihren Kopf vernebelt und ihren Hals gelockert, ganz sanft war sie in einen Schlaf gesunken, der alles verschluckte. Im Eindämmern sah sie Robert, und sie hörte seine Stimme, die sie immer noch rief. Sie antwortete flüsternd, bis die Dunkelheit sie aufnahm. Doch dann war der Sommer vorbei und der Tee aufgebraucht und Mary Elizabeth zurück auf dem College.
Wieder fort. Kein Klavier mehr, hatte sie gesagt, nie mehr.
Sarah versuchte es erneut, aber dieses Mal war es George, der sie herunterholte.
Dann waren die emsigen Ameisen aus ihrer Sicht und aus ihrer Hörweite. Nur noch alte Menschen und die verrückten Schreier und Murmler – wie sie selbst, begriff sie plötzlich, und sie hätte gelacht, wenn sie die Energie oder Kraft dazu besessen hätte.
Sie hatte jetzt für nichts mehr Energie. Sie wartete nur darauf, dass Robert ihr sagte, was sie zu tun hatte.
Clarisa Pool kam jeden Tag. Ja, sie erinnerte sich an Clarisa, hatte versucht, zu nicken und lächeln. Die Jüngste von Win und Annie Pool, ein Mädchen nach all den Jungs, das schon mit vier Jahren seinen Brüdern hinterherrannte.
Sarah wollte sie anlächeln. Damals war sie ein dünnes kleines Mädchen mit Zöpfen gewesen, und jetzt stand hier eine dicke Frau vor ihr, mit Tränen in den Augen. Augen, die so tief und so erfüllt von etwas waren. Liebe und Verstehen . Die Worte kamen irgendwoher – von George, stellte sie fest, aus der Bibel. Es waren die Worte, die er jeden Sonntag am Ende des Gottesdienstes sagte: »Und der Friede Gottes, der alles Verstehen übersteigt, wird eure Herzen und eure Gedanken in der Gemeinschaft mit Jesus Christus bewahren.« Aber hier in den Augen dieser Frau stand etwas anderes. Liebe. Liebe, die alles Verstehen übersteigt .
Eines Tages nahm Clarisa Pool Sarahs Hand und legte etwas hinein, ein kleines, in ein Taschentuch gewickeltes Fläschchen. Sie legte es hinein und schloss dann ihre Finger darum und drückte sie mit beiden Händen zu. Sie sah tief in Sarahs Augen, und ihre eigenen waren voll von einer Liebe, die alles menschliche Verstehen überstieg.
»Die sind für dich, falls du sie brauchst«, sagte sie. »Du musst nicht so gehen wie er.«
Pilger und Fremde
1968
M ary Elizabeth empfand Paris nicht als eine Stadt des Lichts. Für sie war es eine Stadt von Schatten und Regen, von Rauchwolken über einem klagenden Saxophon, launigen Tönen auf einem Klavier, weichen Besenstrichen auf Marcus’ Trommel. So träge und weich – ein lustvolles Kräuseln unter der Haut.
Sie hatten sich zwar kurz nach ihrer Ankunft getrennt, doch Mary Elizabeth blieb noch zwei Jahre in Paris, ging ihren Weg und begann langsam und in Ruhe, wieder Klavier zu spielen. Hier und dort, in der Wohnung der ein oder anderen Freundin, im Studio eines Lehrers, der eine Zeitlang ihr Liebhaber wurde. Sie folgte diesem Mann nach New York, einer weiteren blaugrauen Stadt, und als er nach Paris
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