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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Blicke der Passanten ignorierte sie.
    Vor der Tür des Raums, in dem Mary Elizabeth ihre Prüfung schreiben sollte, umarmte Maze sie mit ihrem dicken Bauch und lachte unter Tränen, als das Baby einen Tritt abgab, den sie beide spürten.
    »M. E., soll ich dich nicht doch lieber nach Hause ins Bett bringen?«, fragte sie. Doch Mary Elizabeth lehnte ab. Sie könne sich nicht leisten, die Klausur zu versäumen.
    »Auf Wiedersehen, Maze«, flüsterte sie schwach. »Und danke.«
    Nach der Prüfung ging Mary Elizabeth vorsichtig zu Octavias Haus. Unterwegs machte sie alle fünfzig Meter eine Pause. Obwohl sie wusste, dass Maze fort war, machte es sie traurig, in ihr leeres Zimmer zu gehen. Aber sie war zu erschöpft, um irgendetwas länger zu empfinden. Sie stieg ins Bett und schlief den Rest des Tages.
    An jenem Abend erzählte sie Octavia, sie habe das Kind am Morgen verloren. Daher bräuchten sie nicht in die namenlose Praxis in der Halsted Street zu gehen.
    Octavia seufzte nur, dann nickte sie. »In Ordnung. Geht es dir jetzt gut? Musst du trotzdem zu einem Arzt?« Mary Elizabeth verneinte, und Octavia korrigierte weiter ihre Klausuren.
    Doch Mary Elizabeth drückte sich noch etwas hinter ihr herum und brachte schließlich den Mut auf, zu fragen: »Hat Marcus es dir erzählt? Wusstest du es deshalb?«
    Da sah Octavia sie an, anfangs etwas mitleidig, dachte Mary Elizabeth, doch dann rasch sachlich.
    »Warum, glaubst du, hat er sich in letzter Zeit nicht blicken lassen?«, fragte sie. »Ich hab ihm gesagt, dass ich jemanden, der so verantwortungslos ist, hier nicht haben will.« Sie deutete mit ihrem Stift auf Mary Elizabeth. »Bleib jetzt bloß nicht stehen, Mary Elizabeth. Lass es hinter dir und mach weiter. Männer tun das ständig – du kannst gleich lernen, es genauso zu machen.«
    »Und sei einfach ab jetzt vorsichtiger«, fügte sie noch hinzu, als Mary Elizabeth sich zum Gehen wandte.

Pilger und Fremde
    1965
    M ary Elizabeth schnitt in der Prüfung am Tag, nachdem sie den Tee »für Schwestern, die gefehlt haben«, getrunken hatte, gut ab. Sie schnitt in allen Prüfungen in jenem Jahr und im folgenden gut ab, und sie schmiedete Pläne, nach dem College Ethnologie zu studieren wie ihr Vorbild, ihre Mentorin. Sie wohnte weiterhin in Octavias Haus, und als Marcus Dyer während ihres Abschlussjahres wieder auftauchte, schlief sie erneut ein paarmal mit ihm, in demselben schmalen, durchhängenden Bett im zweiten Stock. Es war allerdings nicht dasselbe, vielleicht weil sie ihn nicht mehr mit Octavia teilte.
    Oder vielleicht weil sie die erschreckende und gleichzeitig erregende Empfindung verloren hatte, eine schmutzige, befleckte Seele zu besitzen, die schuld war, dass sie solchen Trieben nachgab. Weder eine befleckte noch eine reine Seele – egal, was Schwester Georgia geglaubt haben mochte. Für Mary Elizabeth, die kaum mit ihrem Vater sprach und jeden Gedanken an ihre Mutter aus ihrem Kopf verbannt hatte, war klar, dass sie überhaupt keine Seele besaß.
    Doch im Sommer nach ihrem Collegeabschluss, als sie sich darauf vorbereitete, mit Octavia und mehreren anderen Studenten zu einer Feldforschung auf die Französischen Antillen zu reisen, erhielt sie einen Anruf von Maze, dass Schwester Georgia gestorben sei.
    »Sie wurde schon auf dem Shaker-Friedhof beerdigt«, sagte Maze. »Aber ich möchte eine eigene Gedenkfeier für sie abhalten, oben auf dem Holy Sinai’s Plain. Ich wollte fragen, ob du vielleicht kommst.«
    Sie wartete einen Moment, und da Mary Elizabeth nichts entgegnete, fügte sie leise hinzu: »Außerdem fände ich es schön, wenn du unsere kleine Tochter Marthie siehst.«
    Und plötzlich, aus Gründen, über die sie sich nicht weiter nachzudenken gestattete, sehnte Mary Elizabeth sich danach, noch einmal in Kentucky zu sein. »Ich werde es irgendwie möglich machen«, sagte sie.
    Es war nicht gelaufen wie erhofft. Dennoch hatte Maze die kurze Zeit ihres Experiments in Pleasant Hill sehr genossen. Das alte Dach zu flicken und zu graben und zu pflanzen und entlaufene Hühner einzufangen, am späten Nachmittag im Fluss zu schwimmen. Harris und Phil und Daniel würden gute Bauern abgeben, sagte sie zu ihnen, die gebräunte Haut und ungebändigten Haare stünden ihnen gut. Sie und Sarabeth tranken ein Bier nach dem anderen, während sie eines heißen Augustnachmittags Tomaten einmachten, und lachten über die beiden großen Töpfe, die sie dabei ruinierten. Im Winter zogen sie mehrere Schichten Kleidung

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