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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Bohnen pflückte, und bat ihn, sie zu einer Stelle am Fluss zu begleiten, an die sie sich in den letzten Tagen erinnert hatte. Sie habe sich an seinem Arm festgehalten, seine Hilfe aber kaum gebraucht, erzählte er später. Sie sei über den Pfad zum Fluss geklettert wie ein junges Mädchen.
    Als sie die Stelle erreichten, die sie im Sinn hatte, half Harris ihr, sich auf den Boden zu setzen, mit dem Kissen im Rücken an den Stamm eines Papayabaums am Flussufer gelehnt.
    »Das reicht vollauf«, sagte sie dann zu Harris. »Du kannst jetzt zurückgehen. Ich würde hier gern ein Weilchen allein sitzen.«
    Ob sie etwas brauche, fragte er verblüfft. Doch sie sagte, nein, sie habe ein Fläschchen Wasser in der Tasche und sie komme schon zurecht. Sie habe vor, ein wenig nachzudenken, vielleicht zu beten. »Du kannst ja in ein paar Stunden mal nach mir sehen«, sagte sie zu ihm.
    Als Maze sie einige Zeit später suchen ging, dachte sie zuerst, Schwester Georgia würde schlafen. Sie sah so friedlich aus, wie sie nun zusammengekauert wie ein Kind auf dem Boden lag mit dem Kopf auf dem duftenden Kissen. Aber noch bevor Maze sie anfasste, begriff sie, dass sie tot war. Tot im Alter von dreiundneunzig, mit einem merkwürdigen, wissenden Lächeln auf dem Gesicht. Maze setzte sich neben sie und beobachtete eine Zeitlang den langsam fließenden Fluss, dann erst ging sie Harris und Phil holen.
    Mary Elizabeth lieh sich Octavias Auto für die Fahrt. In Richmond trank sie im Wohnzimmer des Häuschens in der Big Hill Road eine Tasse Kaffee mit ihrem Daddy und Iris Jones, seiner neuen Frau. Keine Zeit, zum Essen zu bleiben, sagte sie ihnen. Sie müsse in wenigen Stunden bei Schwester Georgias Gedenkfeier oben in Pleasant Hill sein. Es sei ein Blitzbesuch, sie müsse am nächsten Tag schon zurück nach Chicago fahren und einen Tag darauf nach Martinique aufbrechen. Aber es sei unheimlich schön, sie zu sehen, sagte sie.
    Danach hatte Mary Elizabeth das Gefühl, die Luft anzuhalten, bis sie im Auto saß, den Motor angelassen hatte, von der Big Hill Road auf die Schnellstraße abgebogen war, das Fenster heruntergekurbelt und ausgeatmet hatte. Sie blies alles aus dem Fenster – Iris Jones’ nervöses Scherzen, den maßlosen Stolz ihres Daddys, den sie deshalb am liebsten mit Kaffee bespuckt hätte. Sarah Cox’ Anwesenheit war nirgendwo im Haus mehr sichtbar, ihr Geist jedoch überall, überall, wohin Mary Elizabeth blickte.
    Sie fuhr schnell und mit offenen Fenstern, der heiße Wind wehte zu ihr herein und sie atmete ihn in tiefen Zügen ein. Irgendwann kam ihr der Gedanke, für wen außer für ihren Daddy sie eigentlich so viel geleistet hatte. Aber sie stellte das Radio an, ganz laut, um diese Frage zu verdrängen.
    Als sie in Pleasant Hill ankam, konnte sie nicht fassen, wie sehr es sich verändert hatte. Alles war gemäht und gestutzt, ein frischer Anstrich auf allen Häusern und Gebäuden und keine Menschenseele zu sehen. Sie ging zur Schwesternwerkstatt und fand dort Harris Whitman, der gerade Schwester Georgias Webstuhl in Einzelteilen auf die Ladefläche seines Pick-ups lud. Er sah älter aus, als sie ihn in Erinnerung hatte, mit Falten um die Augenwinkel, was ihm allerdings gut stand, dachte sie. Er war wirklich ein attraktiver Mann. Er und Maze und die Kleine würden fürs Erste zurück in seine alte Wohnung in Berea ziehen, erzählte er ihr.
    »Leider ist dort kein Platz für einen Webstuhl von der Größe«, sagte er. »Wir müssen ihn erst mal einlagern.«
    Mit schlechtem Gewissen dachte Mary Elizabeth an den Entwurf für eine Babydecke, den sie zwei Jahre vorher heimlich mitgenommen hatte. Mitgenommen und verbrannt hatte, um genau zu sein. Schon früh am Morgen beim Packen ihrer Tasche hatte sie daran gedacht und sich gefragt, ob Maze mit einem neuen Muster noch einmal neu angefangen und die Decke schließlich fertiggestellt hatte.
    Nun stieg Harris vom Wagen und umarmte sie. »Die anderen sind schon oben. Ich hab gesagt, ich würde mit dir nachkommen, wenn du da bist.«
    Oben auf dem Plateau war alles in weiß-goldenes Licht getaucht. Die ausgetretene Erde, der Kreis von Eichen und Erlen, die beiden hohen Tannen – alles war genau, wie Mary Elizabeth es im Gedächtnis hatte, und alles leuchtete. Und dort, auf dem breiten Stein, auf dem Mary Elizabeth und Maze damals gesessen und Schwester Georgia beim Gottesdienst beobachtet hatten, sah sie Mazes Töchterchen. Die kleine Marthie, inzwischen ein Jahr alt, mit ein paar

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