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Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)

Titel: Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joyce Hinnefeld
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Masken und Herzen, die noch rein waren. Und niemand kannte ihre Zukunft.
    Ein Leben nur ein einziger Herzschlag. Ein Blinzeln. Was war schon Sünde. Oder das Fleisch, in solch unermesslicher Weite?
    Sie hörte den Wind und den Fluss. Sie konnte Tobias Jewells Augen ganz deutlich sehen. Sie schloss die eigenen Augen und atmete den Duft der Tannennadeln ein, dann sank sie in ihren wohlverdienten Schlaf.

Pilger und Fremde
    1965
    A m Morgen nach Schwester Georgias Gedenkfeier fuhren Mary Elizabeth und Clarisa Pool über schmale, zerfurchte Landstraßen außerhalb von Stanford. Clarisa musste um neun Uhr bei der Arbeit in Richmond sein. Als sie auf die Schotterstraße abbogen, die sie gesucht hatten, und weiterholperten, war nur das Brummen des Motors zu hören. Nichts außer ein paar Hühnern in den Gärten regte sich in den wenigen baufälligen Hütten. Ein Hund hob kaum den Kopf, als sie einen knappen Kilometer nach der Abzweigung in der Black Pool Road an einem einfachen Haus vorbeikamen. Clarisa deutete durch das offene Fenster und sagte: »Dort haben deine Großeltern gewohnt.«
    Mary Elizabeth schielte zur Seite und nickte, hielt den Blick aber auf die Straße vor sich gerichtet. Als die Straße, sofern man sie so nennen konnte, schließlich unmittelbar vor einer Baumgruppe an einem Bach endete, gab Clarisa Mary Elizabeth ein Zeichen, rechts an dem alten Zaun anzuhalten.
    Sie stiegen aus dem Wagen und hörten einen einsamen Vogel trällern. Hinter dem Zaun lag eine Kleewiese. Das Gras, durch das sie liefen, war feucht vom Tau. Am Himmel ballten sich graue Wolken, es konnte jede Minute zu regnen anfangen. Plötzlich war der grüne, lebendige Geruch des Morgens zu viel, er erfüllte Mary Elizabeths Lunge, bis sie schmerzte, bis ihr Herz beinahe brach. Sie wollte nur noch zurück ins Auto.
    Doch Clarisa, die inzwischen noch schwerer war als ein Jahr zuvor, stapfte bereits voran und bewegte sich mit beharrlicher Anstrengung und Konzentration auf die Baumreihe zu. Mary Elizabeth zwang sich, ihr zu folgen.
    Schließlich blieb Clarisa stehen und zeigte auf einen breiten Baumstumpf rechts neben sich. Das Holz war grau, an manchen Stellen fast weiß gebleicht, und von grünen Ranken überwuchert.
    »Das ist er«, sagte Clarisa. »Da stand er. Sie haben den Baum zwei Tage nachdem er gefunden wurde gefällt. Das ist jetzt dreißig Jahre her.« Sie zog ein Taschentuch aus ihrer Kitteltasche und wischte sich Augen und Gesicht.
    Mary Elizabeth spürte ihre Knie nachgeben, dann aber straffte sie die Schultern und atmete tief durch. Stark und gut, dachte sie. Die Worte kamen ihr ungebeten in den Sinn und sie schüttelte den Kopf, um sie zu verscheuchen. Die Luft war feucht und schwül, und auf ihrer Stirn und unter den Armen bildete sich Schweiß. Was war das da vor ihr? Was bedeutete es für sie, nun hier zu stehen, mitten in den grünen Hügeln von Kentucky, vor sich einen kümmerlichen Bach, Land, das niemand mehr bebaute, Gras und Ranken und Klee ohne Erinnerung an jenen Tag? Und einen Baumstumpf, dachte sie, der ebenfalls kein Gedächtnis hatte.
    Sie hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen, doch ihr fiel nichts ein. »Schwer vorzustellen, dass dieser alte Stumpf da mal ein ausgewachsener Baum war, an dem eine Leiche hing«, sagte sie, überrascht von der Ausdruckslosigkeit ihrer Stimme.
    »Eigentlich nicht.« Clarisa stand neben ihr und blickte vor sich in den Himmel. »Das ist überhaupt nicht schwer vorzustellen.«
    Nachdem sie Clarisa Pool später am Krankenhaus von Stanford abgesetzt hatte, fror Mary Elizabeth plötzlich furchtbar und zitterte beim Fahren. Am Stadtrand fuhr sie auf einmal rechts ran, legte den Kopf auf das Lenkrad und brach in Schluchzen aus.
    Sie fuhr am nächsten Tag doch nicht nach Martinique. Vielmehr folgte sie zwei Wochen später Marcus Dyer nach Paris, wo er einige Musiker kannte, mit denen er auftreten konnte, und wo er glaubte, vielleicht diesen gottverdammten Krieg abwarten zu können.

Sarah
    1963
    E ine von ihnen kam, um das Haus zu putzen.
    Eine von ihnen übernahm das Waschen.
    Dieselbe briet jede Woche ein Huhn für George, so wie er es gern mochte, und brachte es ihm mit etwas Maisbrot und Kohlgemüse nach Hause.
    All diese Frauen krochen im Haus herum wie Ameisen. Damals, als sie noch dort wohnte, war das Einzige, was Sarah sie nicht anfassen ließ, das Klavier. Wenn sie hörte, dass eine auch nur ein oder zwei Töne spielte, vielleicht beim Abstauben die Tasten herunterdrückte, dann

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