Wie ein Fremder in der Nacht: Roman (German Edition)
es Kaffee und Kuchen im Verwaltungshaus, und eine blauhaarige Frau sagte, dass es der Einzug dieser Flower-Power-Kinder aus Berea gewesen sein muss, was die arme Frau umgebracht hat. Vista hat gezischt wie ein Schlange, als sie das gehört hat, und dann hat sie laut und deutlich erklärt: ›Was ihr alle aus diesem Ort macht, das hat sie umgebracht.‹«
Maze schüttelte den Kopf. »Ich sag dir, M. E., diese beiden Frauen – Schwester Georgia und auch meine Mama – haben mich in den letzten Monaten immer wieder überrascht.« Sie hatte Tränen in den Augen, als sie nach Mary Elizabeths Hand griff und sie eingehend betrachtete. »Und warum hast du mir schon so lange nichts mehr von deiner Mama erzählt, M. E.?«, fragte sie. »Wie geht es ihr?«
Mary Elizabeth sah auf die Uhr und räusperte sich. »Das muss leider bis zum nächsten Mal warten, Maze.« Sie stand auf und trank den letzten Schluck Limonade aus.
In der Küche traf Mary Elizabeth Onkel Shade, dünn und humpelnd, Zigarette in der einen Hand und ein Glas Bourbon in der anderen. Er hustete in den Ärmel seines Pullovers und bot Mary Elizabeth ebenfalls einen Whiskey an, aber sie lehnte ab. »Ich muss heute Abend noch nach Stanford fahren«, erklärte sie ihm.
Ehe sie aufbrach, zog sie das Shaker-Häubchen aus der Handtasche, das sie zwei Jahre zuvor mitgenommen hatte. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, heimlich zurück zum Holy Sinai’s Plain zu gehen, während die anderen auf dem Weg nach unten waren, und es dort schnell, wenn auch nicht allzu tief, neben Mazes Kiste zu vergraben. Doch sie hatte es sich anders überlegt, und nun ging sie damit in die Wohnzimmerecke, wo Maze auf einem Schaukelstuhl saß und Marthie stillte.
Marthie reckte den Hals, um Mary Elizabeth anzusehen, nahm aber den Mund nicht von Mazes Brustwarze und nuckelte die ganze Zeit weiter. Mary Elizabeth lachte und gab dem Kind das steife Häubchen in die gereckten Hände. Dann umfasste sie Mazes Gesicht, strich ihr das Haar glatt, bückte sich, um ihr einen Kuss auf den Kopf zu geben, und wandte sich rasch zum Gehen, bevor sie die Tränen ihrer Freundin sehen konnte.
Schwester
1965
S chwester Georgia ging zum Flussufer, um zu sterben. Nach der Uhr dieser Welt war sie dreiundneunzig Jahre alt, kaum ein Herzschlag, ein Blinzeln im Reich des Geistes, wo sie sich hauptsächlich aufgehalten hatte.
Ihr Leben nur ein kurzer Moment. Mehr als fünfzig Jahre in Pleasant Hill, und doch erinnerte sie sich an den Geruch von Kampfer im Haus ihres Vaters, als wäre sie an diesem Morgen erst dort aufgestanden, als haftete der Geruch immer noch an ihren Kleidern, der Haut ihrer Hände.
Sie nahm ihr Balsamtannenkissen mit – sein schwacher Duft war der von Wald und Sehnsucht – und schob es unter ihren Kopf. Sie legte sich hin wie zum Schlafen – den müden Körper zu einem wohlverdienten Schlaf zu legen gehörte zu den reinsten Freuden ihres Lebens. Der Geruch von Tannennadeln ebenfalls, der süß-saure Geschmack von Beeren, die Sträuße aus Unkraut, die ihr die kleine Maze schenkte, das Gewicht des Babys Marthie auf ihrer Hüfte oder ihrem Schoß. Zu erleben, dass diese störrische Frau Vista weicher wurde, als ob sie bei Marthies Geburt endlich etwas losgelassen hatte, die Luft, ihren Atem, den sie angehalten hatte, seit ihre eigene Tochter auf die Welt kam.
Dann plötzlich klangen diese Worte in Georgias Ohren:
Seit siebzig Jahren schon
darf ich verweilen dort,
mit Freunden reinen Herzens
an diesem heil’gen Ort –
Schwester Hortencys Gedicht. Hatte sie es laut gesungen oder nur gedacht? Die Sonne schien warm auf ihren Kopf, Blätter raschelten in einer sanften Brise, der Fluss bewegte sich braun und träge, hin und wieder zwitscherte ein Vogel über ihr ein kurzes Lied.
Und dann: Lady Margret bestieg ihr schneeweißes Ross, Lord William seinen schneeweißen Schecken … Und
Dreimal küsste er ihre schneeweiße Brust,
Dreimal küsste er ihr Kinn,
Aber als er küsste ihren erdkalten Mund,
Brach sein Herz dahin.
Sie hörte ihn deutlich und erkannte ihn sofort – den glockenhellen Tenor von Tobias Jewell, der unter der Magnolie für sie sang.
Fünfzig Jahre lang hatte sie sich versteckt vor den schwarz gekleideten Männern, die die Geschicke der Welt steuerten. Das wusste sie nun. Die Jugend – sie und Tobias, Maze und ihr junger Mann und ihre Freunde – war so machtlos gegenüber ihren Gesetzen und ihren Kriegen. Dennoch wurden Kinder geboren, wie Marthie, Gesichter ohne
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